Ziel­kon­flik­te bei Flus­sau­f­wei­tun­gen

Trinkwassergewinnung und Revitalisierung von Gewässern

Die Revitalisierung der Schweizer Flüsse ist politisch beschlossen. Dabei kann es zu Konflikten mit der Trinkwasserversorgung kommen. Ein Zusammenschluss zu regionalen Wasserversorgungsnetzen würde den Spielraum für die Gestaltung von naturnäheren Flüssen vergrössern.

Data di pubblicazione
14-11-2014
Revision
18-10-2015

Je rund 40% des Schweizer Trinkwassers stammen aus Quellen und gepumptem Grundwasser, der Rest aus See­wasser. Flusswasser speist zu einem beträchtlichen Teil die Grundwasservorkommen in den Tallagen, indem es durch die Gewässerufer infiltriert (Uferfiltrate). Weil die meisten Flüsse in der Schweiz recht sauber sind, benötigt selbst in Flussnähe gewonnenes Trinkwasser oft keine grosse Aufbereitung.1

Damit dies möglichst auch so bleibt, än­derte das Parlament im Juni das Gewässerschutzgesetz, sodass die hundert wichtigsten Kläranlagen aufgerüstet werden. Damit wird die Belastung der Gewässer mit schädlichen Mikroverunreinigungen deutlich verringert. Um den Eintrag von Pflanzenschutzmitteln aus der Landwirtschaft zu senken, hat der Bundesrat im vergangenen Mai die Verwaltung zudem beauftragt, einen Aktionsplan zu erarbeiten.

4000 Flusskilometer revitalisieren

Von der Öffentlichkeit bisher kaum wahrgenommen, schlummern jedoch weitere potenzielle Konflikte. So erhalten im Rahmen von Hochwasserschutzprojekten die Gewässer oft mehr Raum. Und der grosse Plan der Gewässerrevitalisierung sieht ebenfalls vor, den Flüssen wieder mehr Freiheit zu geben: In den nächsten 80 Jahren sollen 4000km Fliessstrecke von ihrem engen Korsett befreit werden. Wie eine Tagung des Eidgenössischen Wasserforschungsinstituts Eawag in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Verein des Gas- und Wasserfachs (SVGW) kürzlich aufzeigte, kann es dabei unter anderem auch mit der Trinkwasserversorgung zu Konflikten kommen.2

Im Fokus stehen dabei in erster Linie sogenannte Flussaufweitungen. Dadurch kann sich die Zeitdauer, in der das Wasser vom Fluss bis zu einer Wasserfassung gelangt, verkürzen. Gemäss der Gewässerschutzverordnung muss die Verweildauer im Grundwasser aber zehn Tage betragen, bis Wasser gepumpt und als Trinkwasser verwendet werden darf. Diese Zeit bietet Gewähr, dass krankheitserregende Keime weitgehend eliminiert werden.

In Deutschland ist die geforderte Verweildauer mit 50 Tagen deutlich strenger als in der Schweiz. Mario Schirmer von der Eawag hält den höheren Wert grundsätzlich für gerechtfertigt, weil die Flüsse in Deutschland vielerorts deutlich stärker mit Verunreinigungen belastet seien. Für die Schweiz habe sich ­hingegen die 10-Tage-Regel bewährt. Wäre eine Verweildauer von 50 Tagen einzuhalten, müsste ein grosser Teil der flussnahen Wasserfassungen aufgegeben werden. 

Komplexe Wechselwirkungen

Die Wechselwirkungen zwischen einem Fluss und dem Grundwasser sind vielfältig. Zur Erforschung dieses komplexen Systems haben Wissenschaftler der Eawag an der Thur bei Niederneunforn TG/Altikon ZH bei einer der ersten Flussaufweitungen der Schweiz ein Feldlabor mit Hightech-Instrumenten aufgebaut. Allein schon die Frage, wie lang und in welche Richtung versickertes Wasser aus einem Oberflächengewässer im Grundwasser fliesst, ist schwierig zu beantworten. In der Praxis kämen oft Färbeversuche zum Einsatz, sagt Schirmer. Diese hätten aber den Nachteil, dass sie nur die Fliessverhältnisse an diesem speziellen Tag abbildeten. Mit seinem Team entwickelte er eine Methode, die sich auf die elektrische Leitfähigkeit des Wassers stützt. Diese variiert unter anderem wegen der unterschiedlichen biologischen Aktivität der Wasserlebewesen bei Tag und Nacht. Die elektrische Leitfähigkeit schlägt aufs Grundwasser durch, und so lassen sich Fliessgeschwindigkeiten ermitteln. Die Messungen im revitalisierten Abschnitt und einem kanalisierten Abschnitt der Thur zeigten auf, dass sich die Fliesszeiten aufgrund von Flussaufweitungen tatsächlich verringern können.

Vorbild Winterthur 

Dass sich Flussrevitalisierungen und Trinkwassergewinnung trotzdem unter einen Hut bringen lassen, zeigt das Beispiel von Winterthur. Die Stadt bezieht einen grossen Teil ihres Trinkwassers aus dem Grundwasserstrom der Töss. Das Linsental (auch Leisental genannt) zwischen Eschenberg und der Kyburg ist das zweitwichtigste Fassungsgebiet der Stadt Winterthur. Zwischen Sennhof und Winterthur-Töss befinden sich sechs Grundwasserfassungen von Stadtwerk Winterthur. Im Mittel werden pro Tag 6000m3 Trinkwasser gefördert, die unbehandelt verwendet werden können.

Die Töss ist über ihre ganze Strecke mit unzähligen Schwellen verbaut. Weil sie im Linsental durch ein naturnahes Erholungsgebiet verläuft, kam die Forderung auf, den Fluss ökologisch aufzuwerten. Bei der Winterthurer Wasserversorgung stiess das Projekt zunächst auf grosse Skepsis, denn die aus Sicht des Grundwasserschutzes optimale Situation konnte sich nur verschlechtern. Eigentlich wäre gar kein Eingriff möglich gewesen, sagt Urs Buchs von Stadtwerk Winter­thur. Der gesamte Talboden des Linsentals ist nämlich relativ gross­zügig als Grundwasserschutzzone S2 ausgeschieden.3 In dieser Zone sind gemäss der Gewässerschutzverordnung keine baulichen Ver­änderungen erlaubt. Anhand von Färbeversuchen definierte man mögliche Zonen für Flussaufweitungen. Ziel war es, dass bei den Grundwasserfassungen die 10-Tage-Regel eingehalten werden kann.

Seit 1999 wurde die Töss im Linsental in verschiedenen Etappen revitalisiert. Die Trinkwasserqualität hat dabei nicht gelitten, es musste auch keine Wasserfassung aufgehoben werden. Urs Buchs plädiert dafür, dass die Wasserversorger Flussrevitalisierungen vermehrt auch als Chance sehen. Bei Projekten sei stets der konkrete Fall zu betrachten. Die 10-Tage-Regel hält er als Faustregel für sinnvoll. Für die Trinkwasserqualität sei aber nicht nur die Verweildauer entscheidend, sondern vor allem die Filterleistung des Bodens sowie die Qualität des Flusswassers.

Die Frage aber bleibt: Ist das Ziel von 4000 revitalisierten Flusskilometern angesichts des Trinkwasserschutzes realistisch? Für Stephan Müller, Leiter der Abteilung Wasser beim Bundesamt für Umwelt (Bafu), sind Zielkonflikte nicht von der Hand zu weisen. Die «4000km» bedeuteten eine Verdoppelung des heutigen Tempos bei der Realisierung von Revitalisierungsprojekten und seien als politischer Kompromiss zur Initiative «Lebendiges Wasser» der Fischer beschlossen worden. Müller ist überzeugt, dass beide Ziele, 4000km revitalisierte Flüsse sowie eine sichere Trinkwasserversorgung, erreichbar sind.

Bis Ende Jahr müssen die Kantone ihre erste strategische Planung für die Gewässerrevitalisierung beim Bund einreichen und dabei Prioritäten bezeichnen. Auch wenn diese Planung noch recht grob sein wird, dürfte sie doch einige Hinweise liefern, wie gross die Zielkonflikte tatsächlich sind.

Bedrängte Trinkwasserfassungen

Zu beachten ist dabei, dass die Trinkwasserfassungen hierzulande aus unterschiedlichen Gründen unter Druck stehen. In der kürzlich publizierten Bafu-Studie «Wasserversorgung 2025»4 etwa steht, dass nicht nur die Konflikte mit Hoch­wasserschutz- und Revitalisierungs­massnahmen in naher Zukunft zunehmen dürften. Ebenso werde der Siedlungs- und Erholungsdruck steigen. Der Bericht liefert aber keine konkreten Zahlen. 

Eine regionale Zusammenarbeit der Wasserversorger könnte den Zielkonflikt zwischen der Trinkwassergewinnung und der ökolo­gischen Aufwertung von Flüssen entschärfen. In grösseren Versorgungsnetzen erweist sich vielleicht die eine oder andere Wasserfassung als überflüssig, was wiederum den Spielraum für Flussrevitalisierungen vergrössert. Ein aktuelles Beispiel ist das Hochwasserschutzprojekt «aarewasser»5 zwischen Thun und Bern, bei dem die Trinkwasserfassungen die wohl grösste Knacknuss darstellen. Immerhin liegen seitens des Kantons Lösungsansätze auf dem Tisch, während solche beim Projekt «Rhesi»6 am Alpen­rhein im Rheintal erst noch erarbeitet werden müssen.

Anmerkungen

  1. Gemäss Schätzung des Schweizerischen Vereins des Gas- und Wasserfachs (SVGW), die aber nur die Wasserfassungen von rund 60% der Bevölkerung umfasst, wird ein Drittel des geförderten Grundwassers nicht behandelt, ein Drittel mit UV-Licht oder Chlor desinfiziert und ein Drittel mehrstufig zu Trinkwasser aufbereitet.
  2. Tagungsband zum Eawag-­Infotag 2014
  3. Die Schutzzone 1 umfasst die unmittelbare Umgebung der Trinkwasserfassung, während in der Schutzzone 2 unter anderem das Ausbringen von Gülle oder bauliche Veränderungen untersagt sind.
  4. Grundlagen für die Wasserversorgung 2025. Umwelt-Wissen, Bafu 2014
  5. www.aarewasser.chww.rhesi.org
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