Alnatura Campus: Langhaus als Lichtfänger
Der grösste Lehmbau Europas ist beides: ein gut geschütztes und ein sehr offenes Gebäude. Die gegensätzlichen Fassaden und Materialien schaffen die Grundlage für ein eindrückliches Raumgefühl und ein zurückhaltendes Technikkonzept.
Früher rollten hier Panzer in die Garage, und Soldaten stapelten Munitionskisten, wenn sie nicht sonstwie für den Ernstfall gedrillt wurden. Vor gut zehn Jahren räumte die US-Armee aber ihre Kaserne am Westrand von Darmstadt und gab das 50 ha grosse Gelände für zivile Zwecke frei. Die mittelgrosse Universitätsstadt in Südhessen plant nun ihrerseits, privates Gewerbe anzusiedeln. Doch eine Eigenart aus der militärischen Vergangenheit soll bleiben: der weitgehende Zugang für die Bevölkerung. Etwa die Hälfte des Konversionsgebiets ist bewaldet und ein beliebtes öffentliches Naherholungsgebiet. Eines der ersten Ansiedlungsprojekte passt dazu bestens: der «Alnatura Campus».
Seit diesem Frühjahr steht das Privatareal offen; ein Bürohaus und ein weitläufiger Park darum herum locken zielstrebige Geschäftsleute ebenso an wie bummelnde Nachbarn oder neugierige Passanten. Ein Teich lädt zum Verweilen ein, ein Kindergarten zum Spielen, ein Gemüseacker zum Urban Gardening oder lauschig angelegte Pfade zum Joggen. Auch an die Verpflegung wurde gedacht: Im Parterre des Neubaus hat sich die Zürcher Gastrokette Tibits niedergelassen, mit ihrer ersten Filiale im nördlichen Nachbarland. Und darüber residiert eine weitere in der Schweiz bestens bekannte Marke: Der Biolieferant Alnatura, dessen Sortiment viele Regale eines inländischen Grossverteilers füllt, hat auf dem ehemaligen Kasernenareal in Darmstadt seinen neuen Geschäftssitz erstellt.
Beide Unternehmen, Alnatura wie Tibits, verkaufen nicht nur Lebensmittel in unterschiedlichem Verarbeitungszustand, sondern betonen auch den Anspruch, nur hochwertige, die Natur schonende Esswaren anzubieten. Auch ihre neue Adresse verheisst mehr Ökologie. Massige Wände aus Stampflehm tragen das dreistöckige Darmstädter Geschäftshaus. Abermals taucht eine bekannte Grösse auf: Der Vorarlberger Lehmbauer Martin Rauch, der am Architekturdepartement der ETH Zürich über nachwachsende Baustoffe doziert, hat hier sein bisher grösstes Vorhaben realisiert. Das Stuttgarter Architekturbüro haas cook zemmrich Studio2050 holte ihn ins Boot, weil ein zukunftsfähiges Gebäude bestellt worden war, «das den Mitarbeitern ein optimales Raumklima mit minimalem Aufwand an Energie bieten soll». Die Nutzung des Campus soll sparsam und emissionsarm erfolgen; ebenso war ein geringer Umweltfussabdruck für Produktion und Transport der Baumaterialien anzustreben. Neben dem Lehm dominieren Holz und Glas das ökologische Baustoffinventar.
Kompaktes Volumen, freie Mittelachse
Eine erste Überraschung gelingt der Architektur mit der einfachen Form. Das Campusgebäude ist eine typologische Mischung aus «Villa rustica» und dem mittelalterlichen Langhaus. Giebeldach und gelbe Mauern sprechen für die römische Verwandtschaft; das rudimentäre Profil und der simple Grundriss betonen ein ländlicheres Bauprinzip. Der Effekt daraus ist: Das kompakte Volumen darf als Teil der Architekturgeschichte verstanden werden und hält sich fern vom schablonenhaften Bild moderner, energieeffizienter Bauten.
Noch radikaler mutet der Bezug zur Tradition mit der offenen Struktur im Innern an: Die Mittelachse bleibt frei; diese überbrücken einzig sich kreuzende Treppenkaskaden zur Erschliessung der zwei Obergeschosse. In den Seitengalerien sind insgesamt 500 Arbeitsplätze eingerichtet; die Ausstattung und die Oberflächen ordnen sich dem hellen, schlichten und zweckmässigen Charakter unter.
Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 46/2019 «Vollverglast: im Zwiespalt mit der Sonne».
Am Bau Beteiligte
Bauherrschaft
Campus 360, Darmstadt (D)
Architektur
haas cook zemmrich Studio2050, Stuttgart
Energiekonzept und -monitoring
Transsolar Energietechnik, Stuttgart
Verglasung
Flachglas Wernberg
Lehmbau
Lehm Ton Erde Baukunst, Schlins (A)
Tragwerksplanung
Knippers Helbig, Stuttgart
Klimaengineering
TU München
Landschaftsarchitektur
Ramboll Studio Dreiseitl, Überlingen (D)
Planungs- und Bauzeit
2014–2019