Auf der gan­zen Li­nie ge­schei­tert

Editorial aus Tracés Nr. 08/2015

Publikationsdatum
28-04-2015
Revision
25-08-2015

Dass in den letzten Jahren Grenzmauern, Grenzbefestigungen und Grenzzäune förmlich ins Kraut schossen, scheint symptomatisch für die generalisierte Angst der Staaten vor dem Verlust ihrer nationalen Identität zu sein. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat sich die Anzahl dieser Bollwerke verfünffacht. Gab es zu Beginn der 1990er Jahre nur gut ein Dutzend davon, so existieren heute weltweit an die 60 befestigte Grenzen. Und der Grund für die meisten dieser heutigen Grenzmauern heisst Migration. 

Im Laufe der Jahre hat sich die Funktion der befestigten Grenzen grundlegend geändert. In den 1950er Jahren errichteten Nord- und Südkorea eine Demarkationslinie, mit der die Brisanz aus den Spannungen zwischen beiden Staaten genommen werden sollte, und bei der Teilung Zyperns im Jahr 1974 entstand eine Pufferzone, mit der die Konflikte zwischen den beiden Gemeinschaften befriedet werden sollten. Die Breschen, die solche Bauwerke in die Bevölkerung und in die Landschaft schlagen, werden lange brauchen, bis sie verschwunden sind. Zu dieser Zeit wurden die Mauern wegen kriegerischer Handlungen errichtet. Dahinter stand der Wille, einen Status quo zwischen zwei verfeindeten Parteien zu erhalten und einen Versuch der Befriedung zu unternehmen.

Doch inzwischen ist es so, dass die meisten Grenzbefestigungen von Staaten errichtet wurden, die sich nicht im Kriegszustand befinden, und zwar von Demokratien und Autokratien gleichermassen. Als Beispiel hierfür seien Brasilien und die USA genannt, aber auch die Dominikanische Republik, die sich gegenüber ihrem Nachbarn abschotten will, um, so die Aussage der Regierung, einer «Haitianisierung»  des Landes vorzubeugen. Aber man braucht gar nicht erst in die Ferne zu schweifen, denn auch Frankreich baut eine Barrriere im Hafen von Calais aus. Oder man denke an die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla. 

Und was noch zynischer ist: Weil sie sich überrannt fühlen, machen bestimmte Länder ihre Grenzen dicht, um die Flut an Migranten abzuwehren oder umzuleiten, die aus Konfliktgebieten geflohen sind. Aber auch der seit nunmehr vier Jahren andauernde Bürgerkrieg in Syrien hat direkt oder indirekt dazu geführt, dass mehrere Mauern errichtet wurden: Griechenland weihte Ende 2012 einen 13 km langen Zaun an der Grenze zur Türkei ein, um den Zustrom syrischer Flüchtlinge zu stoppen, Bulgarien baute im letzten Sommer eine 30 km lange Mauer an der Grenze zur Türkei und kündigte diesen Winter an, sie um 130 km verlängern zu wollen. Die Türkei selber befestigte diesen Sommer ihre Grenze zu Syrien, offiziell, um die türkische Bevölkerung vor der Bedrohung durch Dschihadisten zu schützen. 

Insgesamt ergibt sich ein düsteres Bild, denn noch nie zuvor in der Weltgeschichte wurden immer mehr solcher Mauern zur Abschottung vor Immigranten errichtet. Vielleicht ist dies ein Anzeichen eines besorgniserregenden Rückzugs der Staaten ins Nationale. Es zeigt auf jeden Fall, dass die Politik auf der ganzen Linie gescheitert ist.

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