Auf zwei Wegen zum nachhaltigen Bauen
Die Norm «Nachhaltiges Bauen im Hochbau» oder Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz? Beide Varianten ergänzen sich, wie die Praxis zeigt. Dass die jeweiligen Kriterienkataloge identisch werden, darf als Zukunftshoffnung verstanden werden.
Die Norm SIA 112/1 «Nachhaltiges Bauen im Hochbau» und der Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz (SNBS) sind eng miteinander verknüpft. Das ist gewollt; in der Praxis braucht es oft beide. Die Norm wurde vor zwei Jahren revidiert und soll sich als strategisches Instrument bewähren, um Zusammenhänge und Synergien beim nachhaltigen Bauen aufzuzeigen und Zielkonflikte aufzudecken – ohne allerdings etwas zu messen. Das wiederum ist die Domäne des SNBS 2.0, der seit 2017 ebenfalls in zertifizierbarer Version vorliegt (vgl. TEC21 39/2018). Der Standard spinnt den strategischen Faden weiter und bewertet die konzeptionelle Bearbeitung ebenso wie das realisierte Resultat des Architekturentwurfs.
Doch wie wirken die beiden Planungsinstrumente in der Praxis zusammen? Die SIA-Nachhaltigkeitsnorm wurde 2004 lanciert; seither ist sie in vielen Architekturwettbewerben oder Projekthandbüchern programmatisch berücksichtigt. Aber anscheinend wissen nur ausgewiesene Spezialisten, dass sie mehr ist als ein Kriterienkatalog für die Nachhaltigkeitsbegleitung von Projekten. Ebenso wichtig ist, dass die Norm die Grundlage zur Vereinbarung von Nachhaltigkeitszielen in der strategischen Planung liefert.
Ziele vereinbaren
Bevor eine Planung beginnt, sorgen Zielvereinbarungen dafür, dass alle Beteiligten verstehen und klären, welche Ergebnisse abzuliefern sind. Die Bauherrschaft setzt sich mit dem Architekten – und bei Bedarf mit weiteren Fachplanern – zusammen und definiert die Projektziele. Beim Bau einer Wohnsiedlung oder eines Areals kann ein solches Ziel die Schaffung von Versorgungsangeboten sein, um die Wege zum Einkaufen kurz zu halten. Die planerische Umsetzung erfolgt mit dem Entwerfen der passenden Erdgeschossnutzung. Derweil bleibt die Bauherrschaft zuständig für Programmierung, Vermietung und Betrieb der Einkaufsinfrastruktur.
Die Vereinbarung definiert nicht nur die Ziele, um die Nachhaltigkeit des Projekts zu verbessern, sondern auch die Umsetzungsmassnahmen. Ebenso regelt sie die Verantwortlichkeiten. Die SIA-Norm «112/1» enthält dazu eine Anleitung und einen aktuellen Katalog aus gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Kriterien.
Einen Vorzeigefall, was die Umsetzungsthemen wie auch das Vorgehen betrifft, stellt das Wohn- und Gewerbehaus Kalkbreite in Zürich dar (vgl. TEC21 26–27/2014). Die gemeinnützige Bauherrschaft hat das Spektrum der Nachhaltigkeitsziele sogar erweitert, insbesondere mit Massnahmen zu gesellschaftlichen Themen. So wurden etwa innen wie aussen gut nutzbare Gemeinschaftsbereiche realisiert; demgegenüber konnte das Angebot an individuellen Aufenthaltsangeboten reduziert werden. Ein positiver Zusatzeffekt daraus ist die hohe Flächeneffizienz: Jede Bewohnerin und jeder Bewohner beansprucht eine Wohnfläche von 33 m2, was zur Zeit der Planung ein Drittel unter dem Durchschnitt in der Stadt Zürich lag.
Die Vereinbarung mit den nachhaltigen Zielen diente in der Projektierungs- und Ausführungsphase als Steuer- und Monitoringinstrument. Bis heute setzt die Genossenschaft sie für betriebsinterne Nutzungsfragen ein. Dieses Vorgehen hat inzwischen andere Bauträgerschaften zu ähnlichen Modellen inspiriert.
Zertifikat als Ergänzung
Was im Planungsprozess mit der Norm und den vereinbarten Nachhaltigkeitszielen beginnt, soll der SNBS 2.0 im Projektverlauf weiterführen und möglichst umfassend und befriedigend zu Ende bringen. Die Indikatoren für das Standardzertifikat sind daher auf die 112/1-
Kriterien abgestimmt. Ein identischer Katalog ist jedoch weder möglich noch sinnvoll. Die Norm berücksichtigt unter anderem Themen wie Solidarität oder sozialen Ausgleich, die bislang nicht oder nur ansatzweise standardisiert umsetzbar respektive messbar sind. Vielleicht werden künftig Lösungen dazu präsentiert.
Wie gut SIA 112/1 und SNBS ineinandergreifen, zeigt die diesen Sommer fertiggestellte Wohnüberbauung Letzigraben in Zürich Albisrieden. Bauträgerin ist die Siedlungsgenossenschaft Eigengrund, die den Ersatzneubau anhand einer Zielvereinbarung gemäss SIA 112/1 entwickelt hat. Die Siedlung erfüllt die Anforderungen des Gebäudestandards Minergie-P-Eco. Eine Vorzertifizierung zum SNBS 2.0 Hochbau auf Niveau Platin liegt ebenfalls vor; noch in diesem Jahr soll das definitive Zertifikat überreicht werden. Zwar ist die Genossenschaftssiedlung Letzigraben kein derartiger Nachhaltigkeitspionier wie die Kalkbreite, doch die Schwerpunkte sind immer an den Standort anzupassen: Mitten in einem Wohnquartier gelegen, lassen sich Gewerberäume weniger leicht vermieten. Die Besonderheit: Eine sehr hohe Dichte prägt hier den einer Gartenstadt ähnlichen Siedlungscharakter.
Neutrale Ziele formulieren
Die strategischen Ziele sind vorzugsweise neutral zu formulieren, noch bevor die Realisierung eines Nachhaltigkeitsstandards bestimmt wird. So kann eine Integration von technischen Systemanforderungen vermieden werden, die sich aus den vereinbarten Zielen nicht zwingend ableiten lassen. Der Übergang von der SIA-Norm zum SNBS erlaubt ein «standardneutrales» Vorgehen. Der Standard schreibt selbst keine konkreten Massnahmen vor, sondern lässt Spielraum für die Entwicklung eigenständiger Konzepte offen. Damit können Nachhaltigkeitsmassnahmen gezielt auf das Projekt ausgerichtet werden. Zum Beispiel bei der Lüftungsfrage: Der nachhaltige Gebäudestandard SNBS erlaubt prinzipiell ein Lüftungskonzept ohne Mechanik. Die Zertifizierung wird nicht infrage gestellt, solange die Qualität der Raumluft die grundlegenden Anforderungen gemäss Normen und Recht erfüllt.
Doch nur der SNBS?
An sich kann der SNBS-Standard unmittelbar für die Entwicklungsstrategie genutzt werden. Bei diesem Vorgehen wäre einzig eine Zielvereinbarung analog der SIA-Norm zu ergänzen. Ansonsten ist der umfassende thematisch definierte Projektbeginn genauso sichergestellt wie die nachfolgende Umsetzung als Teil der Projektausführung. Und weil die Zertifizierung ein Betriebskonzept verlangt, wirkt sich der SNBS bis in die Nutzungsphase aus.
Der Einstieg über die 112/1-Norm hat aber den Vorteil, dass offen bleibt, ob überhaupt und mit welchem Standard gebaut werden soll. Entscheidet man sich aber später dafür, nach SNBS zu zertifizieren, lässt sich damit nahtlos weiterarbeiten. Bemerkenswert ist zudem, welche Entwicklungen mit einem kombinierten Vorgehen angestossen werden können. So hat der SNBS inzwischen bewiesen, dass die Nachhaltigkeit eines Gebäudes nicht nur in Kilowattstunden oder Franken messbar ist, sondern auch zusätzliche Kriterien wie das Angebot an halböffentlichen Innen- und Aussenräumen oder die Nutzungsflexibilität bewertet werden können. Nun lohnt es sich nachzudenken, wie weitere Themen aus der SIA-Norm umsetz- und messbar gemacht werden können.
Veranstaltungshinweis
Das Netzwerk Nachhaltiges Bauen Schweiz NNBS organisiert zusammen mit dem Runden Tisch Energie + Bauen St. Gallen eine Fachveranstaltung zur Praxis des nachhaltigen Bauens. Am Beispiel des gesamterneuerten Gebäudes der Raiffeisenbank St. Gallen wird gezeigt, wie sich die Norm SIA 112/1 und der SNBS 2.0 Hochbau als Arbeitsinstrumente in der Planung ergänzen. Die Veranstaltung mit anschliessender Begehung findet am 20. Januar 2020 um 19.30 Uhr vor Ort statt.
Infos unter www.energieagentur-sg.ch