Die Wel­le und das Ras­ter

Das von Atelier Archiplein realisierte Wohngebäude in der Rue de la Coulouvrenière in Genf reagiert gekonnt auf grosse wirtschaftliche, nutzungs- und standortbedingte Herausforderungen. Dazu ist der Bau in massivem Naturstein erstellt.

Publikationsdatum
31-10-2023
Valéry Didelon
Historiker, Architekturkritiker und Professor für Architekturtheorie an der École nationale supérieure d'architecture de Normandie ENSA

Der Prozess der Deindustri­alisierung, der seit den 1970er-­Jahren Schwierigkeiten, aber auch sozioökonomische Chancen mit sich bringt, prägt die europäischen Städte bis heute. Die Lagen am Flussufer, die wegen der Energiegewinnungs- und Transportmöglichkeiten von Fabriken geschätzt wurden, sind heute bevorzugte Erholungs- oder Wohngebiete für Wohlhabende.

Die Rhone in Genf ist keine Ausnahme und jedes Grundstück, das an sie angrenzt, weckt das Interesse von Spekulanten und Bauunternehmen. Damit im Stadtzen­trum ein Mindestmass an sozialer Durchmischung erhalten bleibt, beschloss der Kanton, der Nicolas-Bogueret-­Stiftung ein kleines Stück Land zwischen dem Seujet-Staudamm und der Sous-Terre-Brücke zu überlassen, um dort ein Aufnahmezentrum für Menschen in Not und einige Sozialwohnungen zu bauen. Aus dem Wettbewerb ging 2018 das Projekt von Atelier Archiplein als Sieger hervor. Heute erhebt sich der Bau stolz am Ufer der Rhone am Eingang der Rue de la Coulouvrenière.

Eine unmögliche Gleichung

Das dreigeschossige Nachbarsgebäude, das als umstrittenes Baudenkmal der Genfer Industrie gilt, gab den Architekten Marlène Leroux und Francis Jacquier eine enge städtebauliche Schablone vor. Sie mussten, um den Erwartungen von Bauherrschaft und Verwaltung nach­zu­kom­men, auf einer polygonalen Grundfläche von 28 m × 10 m und einer Traufhöhe von 12 m gemeinschaftliche Räume im Erdgeschoss vorsehen und darüber zehn Wohnungen auf drei Stockwerke verteilen.

Die Lösung dieser Gleichung war eindeutig eine Herausforderung. Zwar haben die Planenden die Grundrissverteilung über einen zentralen Erschliessungskern und halbprivate Zugänge geschickt gelöst, doch sie konnten die in Genf vorgeschriebene Mindes­t­raumhöhe von 2.40 m nicht überschreiten, was die Wohnlichkeit beeinträchtigt. Dafür erstrecken sich die grosszügigen Wohnküchen von der Strassenseite im Süden quer bis zur Nordseite, wo sich ein spektakulärer Ausblick auf die Rhone eröffnet.

Während die Badezimmer im Innern des Gebäudes fensterlos sind, orientieren sich die Schlafzimmer zum Fluss hin. Da sie frei von tragenden Elementen sind, können die zehn Sozialwohnungen auch in Zukunft verändert werden und sind damit nachhaltig geplant. Doch auch sinnlich bieten die Räume viel, was der Helligkeit der verwendeten Materialien sowie dem sichtbaren Holz und den massigen Steinquadern im Innern zu verdanken ist.

Immer wieder Stein

Mit diesem Gebäude setzt das Atelier Archiplein seine Pionierarbeit im Bereich des strukturellen Kalksteinbaus in der Schweiz fort. Die Holz-­Beton-Verbunddecken ruhen auf einem tragenden Ring mit witterungsbeständigen Steinblöcken aus Sireuil (F) und einem Kern aus druckfestem Stein aus Brétigny (F), der zwecks Erdbebenwiderstand mit Kabeln nachgespannt wurde. Die übrigen Steinquader stammen aus anderen, preislich wettbewerbsfähigen französischen Steinbrüchen, das Holz für die Brettschichtplatten hingegen wurde in Schweizer Wäldern geschlagen.

Nach ihrem nicht realisierten Projekt für einen Wohnturm im Bahnhofsviertel von Cornavin und dem Wohnhaus in Naturstein in Plan-les-Ouates bei Genf – zwei mit Gille Perraudin entworfene Projekte – beweisen Marlène Leroux und Francis Jacquier hier erneut: Es ist möglich, Mehr­familienhäuser aus natürlichen Materialien und mit kleinem CO²-Fussabdruck herzustellen. Und das in einem Land, in dem Beton leider immer noch König ist. Das Projekt in der Rue de la Coulouvrenière verfolgt eine umweltfreundliche Ethik, die in einer einzigartigen Ästhetik zum Ausdruck kommt.

Fassadenkomposition

Das Gebäude entspricht aber nicht bloss städtebaulichen, funktionalen, technischen und ökologischen He­rausforderungen. Es wurde mit viel Präzision geplant und folgt einer klaren architektonischen Logik: Die Ansichten zeigen eine Kontinuität zwischen Tür- und Fensterstürzen und weisen Falze auf beiden Seiten der bis zu 3 m breiten Fassadenöffnungen auf. Die minimal ausgeprägten Fugen bewirken eine Abstraktion der drei Fassaden, in denen das Verhältnis zwischen Wandöffnung und -fläche 4 : 1 beträgt.

Im Gegensatz zum hellgelben Kalkstein und dem Grau der äusseren Schreinerarbeiten sind die Abdeckungen der Fensterbänke, die industriell gefertigten Gittergeländer und die Blenden der Jalousien aus gebogenem Blech schwarz lackiert. Als Ausdruck eines vom Atelier Archiplein geforderten strukturellen Rationalismus bricht die architektonische Handschrift des neuen Mehrfamilienhauses mit den Gebäuden in der unmittelbaren Nachbarschaft, anstatt sie neu zu interpretieren. Vom Quai du Seujet sowie auch von den Wohnungen aus betrachtet, scheint die streng gerasterte Fassade durch das klare, grün-blaue Wasser des Flusses an Kraft zu gewinnen.

Neubau Rue de la Coulouvrenière 1, Genf

Architektur
Atelier Archiplein, Genf


Bauherrschaft
Fondation Nicolas Bogueret

 

Fläche
1100 m²


Wettbewerb auf Einladung
2018


Eröffnung
2023

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