Ein Praxislabor für Planer und Forscher
Klimaoptimiertes Bauen ist das Gebot der Stunde. Doch wie das verbindlich umzusetzen ist, weiss der Gesetzgeber noch nicht. Bauherrschaften und Architekten suchen nun selbst nach Standards und Lösungen für netto null.
Die nachhaltig ist der typische Body-Mass-Index von Hochhäusern? «Sehr nachhaltig», bewerten Städtebauer den schlanken Sockel und das darauf gestapelte Grossvolumen. «Wenig nachhaltig», halten Umweltingenieure dagegen, mit Blick auf den grossen Klimafussabdruck.
Forscher des University College London haben mehrere Wolkenkratzer in der englischen Hauptstadt analysiert und die spezifischen Betriebsdaten mit denjenigen von Flachbauten verglichen. Dem Wind und Wetter frei ausgesetzte Hochhäuser verbrauchen in der Regel mehr Energie pro Quadratmeter Geschossfläche; der spezifische Kohlendioxidausstoss ist sogar doppelt so hoch.
Die Kollegen der britischen Royal Academy of Engineering wollten Genaueres über die Nachhaltigkeit des vertikalen Städtebaus wissen und untersuchten dazu 25 Hochhäuser in England und Schottland, bei Bau und Betrieb. Ihr letztes Jahr publizierter Befund: «Je höher ein Gebäude, umso grösser werden die spezifischen Treibhausgasemissionen – im ganzen Lebenszyklus.»
Bauen mit der Hälfte der CO2-Emissionen
Die Städte auf dem Festland wachsen ebenso in die Höhe. Aber immer öfter tragen ökologische Baustoffe dazu bei, die eigenen Klimaspuren zu verwischen. Das «HOHO» in Wien – 84 m hoch und zu drei Vierteln aus Holz – verursacht gemäss dem Erbauer etwa 2500 t CO2 weniger als eine Stahlbetonkonstruktion in derselben Kubatur. So viel Treibhausgas bindet der Wald im östlichen Nachbarland in weniger als 90 Minuten.
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Auch der Wohnturm «HAUT» in Amsterdam ist hybrid – aus viel massivem Holz und wenig Beton – gebaut. Das mit 73 m und 21 Etagen derzeit höchste Wohnhaus aus Holz in Europa verursacht jedoch 30 % bis 50 % weniger CO2-Emissionen beim Bau als ein Hochhaus aus Beton und Stahl.
Diesen Vergleich liess der World Business Council for sustainable Development erstellen, um die Frage beantworten zu können: «Wie nahe kommen Neubauten dem Netto-Null-Ziel?» Die Erkenntnis aus dem empirischen Forschungsprojekt lautet: «Der Weg ist noch lang.» Ein Gebäude verursacht 600 bis 1200 kg CO2/m2 beim Bauen. Mit dem Baustoff Holz liegt man bestenfalls leicht darunter. Wie der Fussabdruck ganz zum Verschwinden gebracht werden soll, ist für Forschung und Praxis ungewiss. Allein schon die unterschiedlichen Parameter, die neuerdings zu beachten sind, stiften Verwirrung.
Klimaoptimierte Baustoffe
Klimaneutrales Bauen ist in vieler Munde, aber (noch) ein Ding der Unmöglichkeit. Zwischen dem Anspruch, emissionsfrei bauen zu wollen, und der Wirklichkeit klaffen beachtliche Lücken. Manch einer scheint dieses Vakuum jedoch eher zu inspirieren, als dass er sich im Nichtstun übt: Europaweit und auch in der Schweiz preschen kreative und innovative Investoren, Baustoffhersteller und Architekten vor, um eine eigene Idee für das klimaoptimierte Bauen zu realisieren. Solcherlei wird immer häufiger als Experimentierfeld verstanden, in dem sich praxistaugliche Lösungsansätze abzeichnen. Nicht nur bei der Energie, auch bei den Baustoffen sind vermehrt erneuerbare beziehungsweise nachwachsende Quellen gefragt.
Derweil gilt es auch bei den mineralischen Bauprodukten selbst, die bisherigen fossil-lastigen Rezepturen zu verbessern. Und was sich beim CO2-Ausstoss nicht weiter reduzieren lässt, soll mithilfe von Zusatzmassnahmen kompensiert werden können. Diese Praxislabore fordern aber auch die Forschung heraus, die ihrerseits Konzepte für «Netto-Null» entwickeln will (vgl. «Eine Diät für fossil erzeugte Gebäude», und «‹Treibhausgasemissionen sind kein Kavaliersdelikt›»). Spannend ist deshalb, zu beobachten, wie sich kreative Praxisideen und wissenschaftliche Ansprüche zueinander verhalten. Oder ob daraus verheissungsvolle Lösungsansätze für das klimaneutrale Bauen entstehen.
Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 11/2022 «Die Wette auf das Klima».