Nutzen, was da ist
Junge japanische Architektinnen und Architekten schätzen den baulichen Bestand zunehmend wert, sie nutzen es und finden äusserst individuelle Lösungen. Wenngleich diese neue Herangehensweise auch unter dem Druck des demografischen und klimatischen Wandels entstanden sein mag: Die kreativen und flexiblen Bauten und Räume überzeugen. Mit ausreichend Zeit für die Lektüre bietet «Make Do With Now» die Möglichkeit, viel über diese Lösungsansätze zu erfahren.
Die Hochglanzfotos in Büchern und Zeitschriften von schicken Neubauten prägten in der Vergangenheit das Bild japanischer Architektur. Dafür wurde – wie im Buch zu lesen ist – oftmals bestehende Bausubstanz nach einem sehr kurzen Lebenszyklus von durchschnittlich nur 30 Jahren abgerissen. Ein komplett anderes Bild zeigen die Fotografien, die gleich auf den ersten Seiten dieser Neuerscheinung präsentiert werden: verlassene und halbzerfallene Gebäude, oft menschenleere Strassen, in denen nur selten ein Fahrrad oder ein Auto auf Leben hindeutet.
Der Grund dafür: Schon 2018 standen in Japan aufgrund eines starken Bevölkerungsrückgangs 13.6 Prozent der Gebäude leer. 2038 und damit bereits in 15 Jahren könnten es 30 Prozent sein. Sie alle abzureissen, kann aus ökologischen Gründen nicht die Lösung sein. Hinzu kommt, dass Bauen auch in Japan immer teurer und für viele unerschwinglich wird. Bei zahlreichen jungen Architekturbüros führte noch ein weiterer Aspekt zu einem Umdenken: Bestehende kulturelle Werte und handwerkliche Traditionen werden wieder wertgeschätzt und sollen erhalten bleiben.
Detaillierte Einblicke auf 320 Seiten
Insgesamt zwanzig Projekte stellt das Buch in seinem Hauptteil vor, umrahmt von einleitenden Beiträgen, Porträts von fünf ausgewählten Architekturbüros, Essays von japanischen Historikerinnen und Historikern sowie Theoretikerinnen und Theoretikern und als Abschluss, vor dem üblichen Anhang, einem Blick über die Grenzen Japans hinweg. Yuma Shinohara, Kurator am S AM, eröffnet in seiner Einleitung viele neue Perspektiven. Zu lesen ist von der «renovation generation» und von Gebäuden, die mit ihrer Nachbarschaft in Kontakt treten, anstatt sich explizit abzuheben oder gar abzuwenden.
Der kleinteilig gegliederte, gut zu lesende Text ermöglichst auch allen einen Zugang zum Thema, die sich bisher erst wenig oder gar nicht mit japanischer Architektur auseinandergesetzt haben. Betrachtet werden verschiedene Aspekte, wie «From Building to City» und «Material History», jeweils mit Verweis auf einige der später ausführlich vorgestellten Bauten.
Ziel des Buchs ist es, die aktuellen Entwicklungen in der japanischen Architektur darzustellen und festzuhalten, und keine abschliessende Aussage darüber zu treffen. Im sich anschliessenden ersten Essay fokussiert der Architekturhistoriker Kōji Ichikawa darauf, wie sich die Anliegen der Architektinnen und Architekten in den letzten 20 Jahren verändert haben. Die Architektin Momoyo Kaijima beschäftigt sich in ihrem Text mit der Rolle der Planenden in der japanischen Gesellschaft.
Neue Herangehensweisen junger Büros
Die sich anschliessenden Porträts fünf ausgewählter Architekturbüros zeigen auf, was es bedeutet, heute als Architekt und Architektin in Japan zu arbeiten. Sie alle verbindet zum einen, dass sie erst nach 2011 und somit nach der Flutkatastrophe und dem Reaktorunfall im Kernkraftwerk Fukushima in den Beruf eingestiegen sind. Zum anderen waren gemeinsame Interessen und Ansätze ausschlaggebend, die eine neue Herangehensweise und eine andere Gestaltung von Architektur erkennen lassen, wie das Zusammenspiel zwischen Gebäude und Umgebung.
Eine Bilderstrecke, erneut mit formatfüllenden Fotografien, leitet jedes Porträt ein, gefolgt von einem kurzen Text, Skizzen, Plänen und kleineren Bildern. Zwischen diese Kapitel schiebt sich jeweils ein Beitrag, der nicht das Werk der Architekturbüros näher beleuchten möchte, sondern der vielmehr Ideen skizziert, was Architektur heute sein könnte.
«Eine Kultur der Suffizienz»
Die nachfolgenden Projektvorstellungen, am blauen Papier zu erkennen, werden geprägt von einem knapp gehaltenen Text, gesetzt in extrem schmalen Spalten, zahlreichen Fotografien von Aussen- über Innenaufnahmen bis zum Detail, einem Datenblatt sowie einigen Plänen und Skizzen. Auch hier ist das Buch darauf ausgelegt, dass man sich als Leserin und Leser Zeit nimmt, alles genau studiert und sich erst dadurch ein gutes Bild machen kann.
Das Spektrum der Bauten reicht vom Umbau eines ehemaligen Bankgebäudes für zwei Startups über ein aufgeständertes Einfamilienhaus, um Beton für die Bodenplatte zu sparen, bis zu einem ehemaligen Ladengeschäft, das der Architekt nun zur Hälfte als sein Büro nutzt und die in der anderen Hälfte eingerichtete Küche mit einem langen Tisch als Pop-up-Laden für lokale, junge Gastronomiebetriebe. Sie alle sollen, so ist zu lesen, eine «Röntgenaufnahme des gegenwärtigen Architekturschaffens» sein.
Mit einem ebenfalls knappen und sehr informativen Beitrag – einer der Qualitäten dieses Buchs – schliesst «Make do with now» ab. Die Architekturhistorikerin Cathelijne Nuijsink stellt die Positionen und Herangehensweisen der einzelnen Architektengenerationen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in einen internationalen Zusammenhang. Sie zeigt, wie diese regionalen Entwicklungen mit übergeordneten Strömungen in anderen Regionen zusammenhängen.
Erschienen ist dieses Buch als Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, die noch bis zum 12. März 2023 im S AM Schweizerisches Architekturmuseum in Basel zu sehen ist.
S AM Schweizerisches Architekturmuseum, Yuma Shinohara, Andreas Ruby (Hg.): Make Do With Now. New Directions in Japanese Architecture, Christoph Merian Verlag, Basel 2022. 320 S., 514 meist farbige Abbildungen und Pläne, 20 x 26,5 cm, broschiert, Englisch, ISBN 978-3-85616-977-0, Fr. 39.–
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