«Verdichtung nach aussen!»
Diskussionsbeitrag von Martin Hofer, Zürich
Leserkommentar zu TEC21 26/2024.
➔ Die TEC21-Ausgabe 26/2024 zur Verdichtung im Kanton Zug, auf die sich der Leserbrief bezieht, finden Sie hier.
Schon vor Jahrzehnten haben aufgeschlossene Raumplaner und Immobilienexperten (darunter auch Wüest & Partner, 1992!) vor der fortschreitenden Zersiedlung der Schweizer Landschaft gewarnt und gefordert, dass die Siedlungsentwicklung fortan nur noch nach innen, also in den bestehenden Bauzonen, stattfinden sollte.
Zusätzliche Nutzflächen sollten nur noch durch die Konsumation von bisher unbebauten Flächen innerhalb des Siedlungsgebietes bzw. durch Abrüche und Ersatzneubauten von nicht voll ausgenützten Parzellen oder durch An- und Aufbauten gewonnen werden. Das Bauen «auf der grünen Wiese» an den Siedlungsrändern oder gar das Neueinzonen von Freiflächen sollte unterbunden werden – aus Sicht der Ökologie und Nachhaltigkeit ein durchaus einleuchtendes Konzept.
Die Behörden haben die Idee der «Verdichtung nach innen» auf allen Ebenen – Bund, Kantone und Gemeinden – aufgenommen und das Einzonen von bisherigen Nichtbauflächen zu Bauzonen vor einigen Jahren konsequent verboten. Bund und Kanton gingen sogar noch weiter und forderten die Gemeinden auf, bisher eingezonte, in absehbarer Zeit aber nicht beanspruchte Baugebiete auszuzonen.
Die Akteure auf den Bau- und Immobilienmärkten haben entsprechend reagiert. Restparzellen im Siedlungsgebiet wurden überbaut, Liegenschaften mit geringer baulicher Dichte verdichtet, sei es durch Abbrüche und Ersatzneubauten, sei es durch Aufstockungen und Anbauten.
Dadurch ist etwas mehr Nutzfläche entstanden, allerdings nicht immer mit dem gewünschten Ziel und in gewünschtem Mass. Baugenossenschaften in den grossen Städten beispielsweise brechen zwar ihre alten wenig dichten Siedlungen mit kleinen Wohnungen ab zugunsten von mächtigen Neubausiedlungen mit deutlich grosszügigeren Wohnungen, aber unter dem Strich entstehen zahlenmässig nicht viel mehr Wohneinheiten als vorher.
Heute zeigt sich immer stärker, dass die durch die stetige Bevölkerungszunahme hohe Wohnungsnachfrage mit dem Konzept der inneren Verdichtung nicht befriedigt werden kann. Es herrscht ein deutlicher und anhaltender Angebotsmangel, der sich, primär in den Ballungsräumen, in eine eigentliche (und steigende) Wohnungsnot zu verwandeln droht.
In der bisherigen Verdichtungspraxis wurde in den meisten Fällen Altbausubstanz vernichtet und durch Neubauten ersetzt, nicht immer nur offensichtliche Abbruchobjekte, sondern oft auch durchaus intakte und gut nutzbare Bestandbauten (teilweise erst 25 bis 30 Jahre alt). Anbauten an bzw. Aufbauten auf Bestandgebäude oder Neubauten zwischen Altbauten gesetzt, bildeten eher die Ausnahme. «Tabula rasa» ist für die Entwickler der einfachere Weg.
Beim Konzept «Abbruch/Ersatzneubau» hat aber mittlerweile ein Gesinnungswandel stattgefunden. Aus kultureller Haltung (Stichworte: Identität, Geschichte, Respekt etc.), aber auch ökologischer Sicht (Stichworte: graue Energie, Lebenszeit von Materialien etc.) wird ein sorgfältigerer «Umgang mit dem Bestand» gefordert. Radikale Kreise fordern sogar ein vorläufiges Abbruchverbot bzw. -moratorium, was sicher zu weit gehen würde.
Es scheint, als wäre ein Paradigmenwechsel notwendig:
- Eine «Verdichtung nach aussen» kann in begründeten Fällen durchaus Sinn machen und helfen, die herrschende und anhaltende Wohnungsnot zu lindern.
- «Verdichtung nach innen» ist gut und weiterhin zu bevorzugen, reicht aber nicht aus, um die Nachfrage zu befriedigen.
- Bei der Verdichtung nach innen muss dem Umgang mit dem Bestand mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Paradigmawechsel heisst hier: Es muss begründet werden, weshalb ein bestehendes Gebäude nicht mehr weiterverwendet werden kann, sondern abgebrochen werden muss, und nicht, weshalb ein Gebäude erhalten werden soll.
Das Überbauen von «grünen Wiesen» muss gegenüber der Verdichtung der bestehenden Siedlungsgebiete ganz klar die Ausnahme bleiben. Das Einzonen von Freiflächen soll jedoch kein absolutes Tabu mehr sein. Unter folgenden Voraussetzungen darf eine Verdichtung nach aussen ins Auge gefasst werden:
- Nur für Gebiete, die direkt an stark urbane Räume anschliessen und in denen anhaltend tiefe Leerstände vorhanden sind: Stadtränder, Freiräume zwischen Grossstädten und Nachbargemeinden. Positives Beispiel (Verdichtung nach aussen angezeigt): Metropolitanraum Zürich, 1.66 Mio. Einwohner (800 EW/km2), anhaltender Wohnungsleerstand 0.75% oder tiefer; negatives Beispiel (Verdichtung nach aussen nicht notwendig): Kanton Tessin, 350'000 Einwohner (125 EW/km2), anhaltender Wohnungsleerstand 2.5% oder mehr.
- Nur für Gebiete, die hervorragend mit öffentlichen Verkehrsmitteln erschlossen sind bzw. ohne grossen Aufwand noch besser mit Zug, Bus und/oder Tram erschlossen werden könnten
- Nur grosse Gebiete mit mehreren Hektaren Land, Schaffung von neuen Quartieren; keine Einzonung von Einzelparzellen
- Neu eingezonte bzw. für eine Bebauung freigegebene Flächen sind mit anspruchsvollen Bedingungen verknüpft:
- Das Bauland unterliegt einer Preislimitierung; ausserdem wird der Mehrwert gemäss dem kürzlich in Kraft gesetzten revidierten Raumplanungsgesetz abgeschöpft.
- Allfällig notwendige Initialkosten für die Verbesserungen des ÖV zahlen die Grundeigentümer.
- Es muss ein erheblicher Teil des neu entstehenden Wohnraums preisgünstig sein.
- Bevorzugt werden nutzungsdurchmischte Projekte mit kommerziellen und kulturellen und Wohnflächen, wobei der Wohnanteil klar dominant sein muss.
- Stark ökologisch ausgerichtete und stark durchgrünte Siedlungen sind zwingend. Stichworte dazu (nicht abschliessend): Re-Use, Re-Cycling, CO2-arme Materialien und Bauweisen, emissonsfreie Beheizung, erneuerbare Energien, Baumpflicht, grüne Fassaden u. ä.
- Gutes ÖV-Angebot, autoarme Siedlungen
- Naherholungsgebiete müssen in unmittelbarer Nähe, fussläufig, vorhanden sein oder geschaffen werden können.
Denkbar sind auch weitergehende Verpflichtungen. Zum Beispiel könnten Grundeigentümer von neu eingezonten Gebieten verpflichtet werden, auszuzonende Landflächen in peripheren Gebieten zu kaufen und der öffentlichen Hand oder einem Verband (z. B. Pro Natura) zu schenken.
Beispiele für Verdichtungen nach aussen gab es schon in der Vergangenheit, wobei da die ökologischen Anforderungen noch zu kurz kamen. Der Glattpark, die dichte Überbauung des ehemaligen Oberhauser Riet, zwischen Zürich-Leutschenbach und Opfikon, ist hier exemplarisch zu erwähnen, wobei hier noch die raumplanerischen Ideen des ausgehenden 20. Jahrhunderts, die heute nicht mehr passen, angewendet wurden.
Wegweisenden Charakter haben auch die Studien der Architektengruppe Krokodil, die schon vor 15 Jahren eine Stadtvision für das Glatttal formuliert hatten.
Ein aktuell offenbar gelingendes Beispiel im grossen Massstab ist die Seestadt Aspern in Wien, ein ehemaliges Flughafenareal in Stadtnähe, optimal mit einer eigenen U-Bahnlinie erschlossen, gut durchmischt, mit eigens geschaffenem künstlichem See als Naherholungsattraktivität, heute zur Hälfte realisiert und weiterhin auf Erfolgskurs.
Im Grossraum Zürich, der weitaus attraktivste und gefragteste Wohnort der Schweiz mit chronischem Angebotsmangel, könnten z. B. folgende Freiflächen für eine Verdichtung nach aussen ins Auge gefasst werden (nicht abschliessende Aufzählung):
- zwischen Zoo/Tobelhof und Gockhausen
- zwischen Witikon und Pfaffhausen
- zwischen Seebach/Affoltern und der Autobahn-Nordumfahrung
- zwischen Affoltern und Regensdorf
- zwischen Höngg und Affoltern
- etc.
Alle diese Freiflächen verfügen über hervorragende ÖV-Verbindungen, direkt angrenzende Wald- und Wiesenflächen zur Naherholung und würden selbstverständlich nur teilweise und klar eingegrenzt bebaut werden.
Im Raum Basel könnte z. B. (endlich) die Freifläche zwischen Kleinbasel und Riehen überbaut werden. Und auch in den anderen vier Grossstädten Genf, Lausanne, Bern und Winterthur gäbe es eine Vielzahl potenzieller Verdichtungsgebiete nach aussen. Dieses Tabu muss gebrochen werden dürfen!
Martin Hofer, dipl. Arch. ETH, Master in Applied Ethics UZH
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