Raum für mehr Raum
Erneuerung Westflügel, Bahnhof Basel SBB
Damit der Westflügel des Bahnhofs Basel SBB wieder in altem Glanz erstrahlen konnte, waren bauliche Massnahmen erforderlich, die von den Bauingenieuren geplant und umgesetzt werden mussten. Die Planenden schufen Raum im Baugrund unterhalb des historischen Bestands.
Von bedrückend einengenden Bedingungen befreit man sich am besten auf kreative, raumschaffende Weise. So hat die SBB Immobilien den historischen Westflügel des Bahnhofs Basel erneuert respektive in seinen ursprünglichen baulichen Originalzustand zurückversetzt, indem sie ein neues Untergeschoss bauten. Der Westflügel besteht aus mehreren Bauteilen und einer grossen, zentralen Halle. Ein grosser Teil dieser Räume im Erdgeschoss war noch nicht unterkellert oder wies im Untergeschoss sehr begrenzte Platzverhältnisse auf.
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Heute sind unter dem Bestand neu die Einkaufsmöglichkeiten verortet, sodass die grosszügige Halle als Transferort mit Aufenthaltsqualität inklusive überschaubarem Retail- und Gastronomie-Angebot freigespielt werden konnte. Das knapp 120 Jahre alte Bauwerk als baukulturelles Erbe der Schweiz ist nun für die Bahnkundinnen und -kunden seit Ende Juni 2021 wieder sicht- und erlebbar. Der Kraftakt, den es dafür benötigte, bleibt aber versteckt.
Bruchstein, Hourdis- und Holzbalkendecken
Das historische, hauptsächlich zweigeschossige Gebäude besteht aus Mauerwerkswänden und Balkendecken. Die Wände bestehen aus Bruchstein oder sind konventionell gemauert. Die Decken sind unterschiedlich, bestehen aus ausgefachten Stahlträgern sowie Hourdis- oder Holzbalkendecken und spannen durchschnittlich etwa 6 m weit. Die Decke über dem Untergeschoss ist hauptsächlich als Gewölbedecke (mit unbewehrtem Beton) erstellt. Der typische Deckenaufbau ab dem Erdgeschoss wiederum präsentiert sich mit INP-Stahlträgern, die alle 80 cm angeordnet sind und die dazwischen Ton-/Hourdis-Elemente einlassen. Diese Elemente sind leicht gegeneinander geneigt eingebaut, sodass sich ein statisch wirksamer Druckbogen bildet. Im Bereich der Tonelemente wurde keine Bewehrung vorgefunden.
Der Bau von 1905/07 ist innerhalb seiner Gattung und speziell für die Stadt Basel ein bedeutendes Baudenkmal. Die Basler Denkmalpflege hat den Bahnhof denn auch denkmalgeschützt. Hier verbinden sich neubarocke Monumentalarchitektur mit filigranem Ingenieurbau zu einer unverwechselbaren Gebäudesilhouette und eindrücklichen Grossräumen. In die massive Veränderung des Baus vor allem unterhalb des Bestands willigte die Denkmalpflege ein, weil sie sie als wertvolle Kompensation für die Entfernung störender Einbauten in der öffentlichen Halle aus früheren Jahren betrachtete. Bedingung war, dass die kantonale Denkmalpflege die gesamte Planung und bauliche Umsetzung eng begleitete.
Eine Abfangkonstruktion für den Aushub
Den Bestand als massives Konglomerat an Bauteilen musste für die Unterkellerung unter- und abgefangen sowie gesichert werden. Die entsprechenden provisorischen Konstruktionen erinnern an ein Nadelkissen mit darüber liegendem Trägerrost: Auf insgesamt 380 vertikal in den Baugrund eingelassenen Mikropfählen lagern horizontal eingebrachte Stahlträger. Diese wurden dafür knapp über der bestehenden Bodenplatte des Erdgeschosses eingebaut und vollständig einbetoniert. Eine Arbeit, die unter den engen Platzverhältnissen an komplexes Einfädeln erinnert.
Das System aus Mikropfählen besteht aus vorgebohrten, zementverfüllten Stahlprofilen aus ROR 89.9 bis ROR 100.0 (S355). Zwar können in den vorhandenen Baugrund grosse Pfahllasten eingeleitet werden, um aber Setzungen zu verhindern, sollten die einzelnen Pfahllasten klein gehalten (Qd < 450 kN, Qser = 260 kN) und die Einbindetiefe möglichst gross (ca. 8 m) resp. der Wert der Mantelreibung mit genügender Sicherheitsmarche (Annahme Mantelreibung sigmazul = 100 kN/m) gewählt werden. Daher ist die Stückzahl der Mikropfähle mit 2 Stk. pro Laufmeter abzufangende Wand hoch. Dank diesem Konzept werden an den Mikropfählen Verschiebungen von maximal 0.5 Zentimeter in Richtung der Beanspruchung erwartet.
Die Pfähle wurden ca. zwei bis drei Tage nach dem Verfüllen zusätzlich injiziert. Versehen mit Pfahlköpfen aus Ankerplatten, wird die Lasteinleitung in die Stahlträger ermöglicht. Sobald dieses Tragsystem im Baugrund ausgehärtet war, hob man den Baugrund rund um die Mikropfähle aus. Mit Fortschreiten des Aushubs wurde die Zementverfüllung um die Stahlrohe herum abgeschlagen und die Pfähle alle 2 m untereinander mit LNP-Stahlprofilen verbunden. Dies erhöht die Robustheit der Konstruktion und die Stabilität der Tragelemente gegen Anprall und Knicken.
Im Anschluss des Aushubs erstellte man das neue Untergeschoss als Massivbau in Stahlbeton. Sowohl Stützen wie auch Decken wurden vor Ort gegossen. Dabei waren komplexe Bauphasen zu überwinden, denn der Betrieb der Bahnlinie sollte nicht unterbrochen werden. So galt es neben dem eigentlichen Vorhaben, den gesamten Stahlbetonsockel zu erstellen, auch Gleissetzungen zu verhindern und zu überwachen, die sechs Perronstützen abzufangen und untereinander auszusteifen, Abschrankungen zu montieren, Fahrleitungsmasten provisorisch zu sichern, zahlreiche Werkleitungen zu demontieren, zu kappen oder zu verlegen, temporäre Spriessungen zu platzieren und mit neuen Bauetappen umzusetzen. Die vollumfängliche Stabilität in alle Richtungen erhielt das Gebäude erst wieder, als die bestehenden Mauerwerkswände wieder auf festem Baugrund – also auf dem neuen Sockel – standen und die neuen Erschliessungskerne aus Beton eingebaut waren.
Die Erweiterung ist nicht sichtbar
Heute tritt der Bau wieder nahezu in seinem originalen Erscheinungsbild auf – ergänzt mit einem unsichtbaren massiven, flach fundierten Sockel, der den Bestand freispielt. Er ist nicht nur Raumschaffer, sondern nimmt auch Mehrlasten auf und stabilisiert das Gebäude zusammen mit den aus ihm herauskragenden Erschliessungskernen gegen Erdbebeneinwirkungen. Die neue Bodenplatte ist entsprechend mindestens 25 cm stark ausgebildet. Im Bereich der Fundamentvertiefungen weist sie Verstärkungen von bis zu 90 cm Stärke auf.
Die lokal für die Fundamentvertiefungen notwendigen Baugruben für beispielsweise Liftunterfahrten und Pumpschächte, liessen die Ingenieure mit Böschungswinkeln von 1:1 erstellen. Im Bereich nahe dem Gleis 30/4 (südseitig) war eine geböschte Baugrube aber nicht möglich, stattdessen musste ein steifer Baugrubenabschluss vorgesehen werden. Die Ingenieure planten dafür eine gestützte Rühlwand (Trägerbohlwand). Diese war nicht rückverankert, sondern in der Baugrube provisorisch mit einer Spriessung an den Bestand resp. an Pfahlböcke gesichert.
Die Sicherungsprofile wurden aus ROR- und HEB-Profilen gebildet, wobei diese wegen den gedrängten Platzverhältnissen in Einzelteilen angeliefert und vor Ort verschraubt und verschweisst wurden. Im Endzustand bleibt die Rühlwand – Träger und Ausfachung – erhalten, aber ohne Funktion. Einzig im oberen Bereich respektive bis 1.2m unter Sohle war sie zurückzubauen. Der Rest leitet den anfallenden Erddruck horizontal direkt an die einhäuptig an die Rühlwand betonierte Aussenwand des lastabtragenden Neubaus weiter.
Nicht im Grundwasser, aber doch wasserdicht
Die Rühlwand ist nicht wasserdicht; kann es wegen ihrem Konstruktionsprinzip auch nicht sein. Ihr Einsatz war möglich, weil der Grundwasserspiegel auf einer Tiefe von etwa 17 m unter Terrain liegt – und damit auch deutlich unter der Bodenplatte. Für die Baugrube musste daher weder mit einem dichten Baugrubenabschluss noch mit einer ausserordentlichen Wasserhaltung gerechnet werden. Das Konzept der Weissen Wanne genügte, um die notwendige Abdichtung der äusseren Bauteile zu erreichen. Die Betonaussenwände – erdseitig mit einer Betonverbundfolie versehen – übernehmen somit neben der tragenden auch die abdichtende Funktion. Das heisst, der unter Terrain liegende Baukörper aus wasserundurchlässigem Beton ist selber Teil der Abdichtung. Entsprechend sind die Arbeitsfugen und Durchdringungen wasserdicht ausgeführt und werden unkontrollierte und letztlich wasserdurchlässige Risse durch systematisch angeordnete und abgedichtete Trennfugen (kontrollierte Trennrisse) vermieden.
Gebäudeflügel statt Nebentrakt
Der statische Kraftakt, der sechs Jahre Planungs- und vier Jahre Bauzeit sowie eine Bausumme von rund 100 Mio. Franken erforderte, ermöglichte einen neuen, multifunktional genutzten Ort im Bestand. Es entstand eine Durchmischung aus Primärfunktionen (Verkehrsstation, Haltepunkt), Sekundärfunktionen (Einzelhandels-, Freizeit- und Kulturzentrum) und Tertiärfunktionen (städtisches Zentrum, Wirtschaftszentrum). Die verbesserte Übersicht und das umstrukturierte und neuorganisierte Flächenangebot mit der entsprechenden Logistik erschaffen aus dem Nebentrakt einen wertvoll belebten Gebäudeflügel.
Informationen
Verfahren
Selektiver Projektwettbewerb 2007, 1. Rang
Planung
2007 – 2020
Inbetriebnahme
2021
Investitionsvolumen
100 Mio. Fr.
Geschossfläche
16 680 m2
Am Bau Beteiligte
Bauherrschaft
SBB Immobilien Development Bahnhöfe, Zürich
Projektsteuerung
Aegerter & Bosshardt, Basel
Architektur, Generalplanung
ARGE Roost / Menzi Bürgler: Patrick Roost Planung Architektur, Bern; Menzi Bürgler Architekten, Zürich; Itten + Brechbühl, Zürich
Kostenplanung und Ausschreibung
DGA Baumanagement, Rotkreuz; CSG Baumanagement, Basel
Tragkonstruktion
WAM Planer und Ingenieure, Bern
HLKK-Planung /Fachkoordination
Waldhauser + Hermann, BaselSanitärplanung
Gruner Gruneko, Basel
Elektroplanung / Strahlenschutz
Actemium Schweiz, Basel
Bauphysik
Bakus Bauphysik & Akustik, Zürich
Brandschutz
AFC Air Flow Consulting, Basel
Lichtplanung
Reflexion, Zürich
Fassadenplanung
Sutter + Weidner, Biel
Baulogistik / Verkehrsplanung
Basler & Hofmann, Esslingen
Begleitung Restaurierung
Stöckli, Stans
Altlastensanierung
Jehle Umweltdienste, Mumpf