Flexibles Woh­nen in Linz – Ein Zwis­chen­be­richt nach 50 Jah­ren

Diplomarbeit einer Weiterbildung

In einer architektonisch-ethnografischen Forschungsarbeit, untersuchte die Architektin und Wohnbauforscherin Rebekka Hirschberg ein experimentelles Wohnhaus aus den 1970er Jahren, das es den Bewohnern ermöglichen sollte, ihre Wohnung in verschiedenen Lebensphasen zu verändern, zu verkleinern oder zu vergrößern. Die Studie hat das Ziel aus den 42 Jahren Wohnerfahrungen Erkenntnisse für zukünftige Gebäude zu gewinnen.

Date de publication
14-12-2023

Wie gestalten Menschen ihren Wohnraum? Wie gehen sie in der Bewohnung mit architektonischen Entwurfsideen um? Und was kann man daraus für zukünftige Gebäude lernen? Das waren zentrale Fragen, als ich mich Ende 2019 auf die Suche nach einer passenden Fallstudie für meine Abschlussarbeit des MAS Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich machte.

Schliesslich stiess ich auf den Versuchsbau “Flexibles Wohnen” in Linz, konzipiert von der Werkgruppe Linz ab 1969. Die vier Architekten entwickelten fast zehn Jahre ein Bausystem, wodurch sich die Bewohner:innen ihren Wohnraum an wechselnde Bedürfnisse und unterschiedliche Lebensphasen anpassen könnten. Der aufwendige Entwurfsprozess wurde durch die österreichische Wohnbauforschung finanziert. Dieses Programm wurde durch das neue Wohnbauförderungsgesetz 1968 eingeführt und unterstand dem Bautenministerium. Die grösste Wohnungsnot nach dem Krieg war beseitigt und der Fokus der Förderung verschob sich von Quantität zu Qualität. Die Werkgruppe-Architekten wollten durch individuell gestaltbare Wohnungen dem monotonen Massenwohnungsbau etwas entgegensetzen aber auch verdichtete Alternativen zum Einfamilienhaus bieten. Ihren Entwurfsprozess und das erste Jahr der Bewohnung dokumentierten die Architekten in drei Forschungsberichten. 42 Jahre später fügte ich dieser Serie einen weiteren Forschungsbericht hinzu. In einer architektur-ethnografischen Untersuchung wollte ich herausfinden, wie sich die Ideen zur Flexibilität in der Praxis bewährt hatten.

Entwurfsgeschichte

“Flexibles Wohnen” hatte das Ziel, den Bewohner:innen zu ermöglichen, ihre Wohnung vor Einzug mitzugestalten, aber auch während der Bewohnung zu verändern, zu verkleinern oder zu vergrössern. Die Geschossfläche sollte möglichst freigespielt werden. Die einzigen Fixpunkte waren die Sanitärkerne, die Erschliessung und die Tragstruktur aus Stahlbeton. Alle Entwurfsentscheidungen folgten einem 60x60 cm Raster. Für die Gestaltung ihrer Wohnfläche sollten die Bewohner:innen aus einer Reihe nichttragender Fertigteilelemente wählen können. Ein Element war zum Beispiel eine aussenliegende Treppe, um übereinander liegende Flächen nachträglich zu verbinden. Zentraler Kooperationspartner im Projekt war der Linzer Stahlbaukonzern VÖEST, dessen Abteilung für Systembau die Elemente vorfertigen und dessen gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft Eigenheim die Siedlung realisieren sollte. Das Bausystem war für grossmassstäbliche Siedlungen mit bis zu zwölf Geschossen konzipiert. Zunächst wurde ein viergeschossiger Versuchsbau umgesetzt, um die Ideen erst zu testen und dann im grösseren Massstab zu realisieren. Die zukünftigen Bewohner:innen und waren in die Planung ihrer Wohnung eingebunden und gestalteten sie sehr individuell. Der Versuchsbau wurde mit langfristigen Darlehen aus der Wohnbauförderung finanziert, die Wohnungen gingen ins Eigentum der Bewohner:innen über. Im Jahr 1987 wurde das Bautenministerium aufgelöst und die bundesweite Wohnbauforschung eingestellt. Das ist ein Mitgrund, warum das Bausystem “Flexibles Wohnen" in der Folge nicht weiter evaluiert und angewandt wurde und es bei dem einen Versuchsbau geblieben ist.

Wohngeschichten

1978 zogen elf Haushalte, vor allem junge Paare und Jungfamilien, in den Versuchsbau ein. Im Jahr 2020, als ich mehrere Male zu Besuch kam, lebten von den elf Haushalten neun noch immer hier. Bei meinem ersten Besuch führte ich ein ausführliches Gespräch mit Werkgruppe-Architekten Helmut Werthgarner, der mit seiner Familie ins Erdgeschoss eingezogen war. Neben der Familie des Architekten wählte ich drei weitere Haushalte für eine genauere Untersuchung. Gemeinsam führten wir ausführliche Gespräche über die Wohnsituation, sahen durch alte Fotoalben und skizzierten, wie sie ihre Wohnungen im Laufe der Jahre verändert hatten. Viele haben sich Parkett- statt Teppichboden eingebaut oder Wände zwischen den ehemaligen Kinderzimmern entfernt. Interessanterweise hat der Architekt selbst von diesen vier Haushalten am wenigsten verändert.
Als es Mitte der 1980er Jahre zu einer Scheidung im Haus kam und einer Bewohnerin wegen zu hoher Kosten der Auszug drohte, arrangierten vier Familien einen Wohnungswechsel. Eine Familie zog in die angrenzende Reihenhaussiedlung aus und drei weitere Familien rotierten nach. Der Wohnungswechsel, der interne Verhandlungen voraussetze, war leichter umzusetzen, als eine bauliche Veränderung der Wohnungen. Überhaupt organisierte sich die Hausgemeinschaft in vielen Belangen selbst, von der Gartenpflege, der Wartung des Heizkessels bis zum Führen der Hauschronik. Beim Blättern durch die drei Bände der Chronik, kann man wichtige Ereignisse in den Familien, sowie zahlreiche Veranstaltungen und Feste im gemeinsamen Partykeller Revue passieren lassen. Zusammenhalt und Dichte an gemeinschaftlichen Aktivitäten sind beeindruckend, besonders wenn man bedenkt, dass sich die meisten Familien vorher nicht kannten.
Mit dem gesammelten Material habe ich Zeichnungen und Diagramme erstellt, um die Entwurfsabsichten mit den tatsächlichen Wohngeschichten zu vergleichen. Dabei bin ich nicht nur in die bauliche Entwicklung, sondern auch in die Biografien und Beziehungen der Menschen im Haus eingetaucht.

Erkenntnisse

Die sehr aufwendig geplante Flexibilität wurde in vielerlei Hinsicht nicht genutzt. Die Elemente wurden für den Bau wegen zu geringer Stückzahl nicht vorgefertigt. Zu einer Verkleinerung der Wohnfläche nach Auszug der Kinder, so wie es eigentlich vorgesehen war, ist es bisher noch in keinem Fall gekommen. Die nichttragenden Wände sind der relevanteste Aspekt des flexiblen Bausystems. Dass keine Wand stehen muss, wo sie steht, ist für die Bewohner:innen ein Selbstverständnis und hat einen großen Einfluss auf die bisherigen und zukünftigen Veränderungen der Wohnungen.

Die Eigentumsform und die Tatsache, dass alle Bewohner:innen zum Einzug ähnlich alt waren, hatte eine hemmende Wirkung auf die Flexibilität. Die Familienzyklen haben sich ziemlich parallel entwickelt haben und der Altersschnitt lag 2020 bei 78 Jahren. Eigentlich hatten die Architekten und der begleitende Soziologe immer für eine altersmässig durchmischte Hausgemeinschaft plädiert. Die Möglichkeit der Mitgestaltung und Einbindung der Bewohner:innen vor dem Einzug hat dazu geführt, dass sich die Bewohner:innen sehr stark mit dem Haus identifizieren und sich eine stabile Hausgemeinschaft gebildet hat, die sich in vielen Aspekten selbst organisiert. Die Bewohner:innen haben den Versuchsbau zu einem Gemeinschaftshaus gemacht, der als Vorbild für solidarisches, leistbares und selbstbestimmtes Wohnen dienen kann.

Autorinnen

 

Rebekka Hirschberg ist Architektin und Wohnbauforscherin. 2018 hat sie das unabhängige Kollektiv wohnlabor mitbegründet, das zu Themen rund ums Wohnen, Finanzierungsmodellen und Stadtentwicklung in Österreich forscht. Seit 2023 ist sie Doktorandin an der Universität Gent (Department of Architecture and Urban Planning).

 

MAS-Abschlussarbeit: Wohnbauforschung im Versuchsbau. 50 Jahre Flexibles Wohnen in Linz, January 2020.

 

Betreuerinnen: Susanne Schindler, Andreas Rumpfhuber

MAS in Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich

 

Programmleitung und Co-Leitung: Sylvia Claus (2004-18), Anne Kockelkorn (2019-21), Susanne Schindler (2019-), André Bideau (2021-)

 

Program: 4 semesters

 

Kurzbeschreibung: Der Master of Advanced Studies (MAS) in Geschichte und Theorie der Architektur ist ein zweijähriges, berufsbegleitendes Teilzeitstudium. Der Kurs hat drei wesentliche Ziele: Erstens, die Vermittlung der Grundlagen der Architekturgeschichte und -theorie; zweitens, die Diskussion aktueller disziplinärer Fragen der Architekturpraxis sowie Debatten der Architektur-, Stadt- und Wissenschaftstheorie; drittens, die Studierenden in die Methoden der kritischen wissenschaftlichen Arbeit einzuführen und ihnen diese als Instrument des Schreibens, des Entwerfens und des Forschens zur Verfügung zu stellen

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