«Die natürlichen Wachstumsgrenzen erlernen»
Das Buch «Montessori Architecture» ist ein Entwurfsinstrument für eine Architektur, bei der Kinder im Zentrum stehen. Wir sprachen mit Benjamin Stæhli, einem der Autoren, über die Simba Vision School in Arusha und über das Verständnis von Freiheit.
Herr Stæhli, was ist Ihr persönlicher Zugang zu Montessori und wie kamen Sie dazu, ein Buch zum Thema Montessori-Architektur zu schreiben?
Benjamin Stæhli: Ich selbst hatte keinen persönlichen Zugang dazu, weil ich als Kind keine Montessori-Schule besucht habe. Aber ich denke, das ist gut so, denn so hatte ich die nötige Objektivität, um dieses Buch mit Steve Lawrence machen zu können. Die Arthur Waser Stiftung unterstützt seit über 20 Jahren die Montessori-Pädagogik in Tansania und wurde immer wieder mit Gesuchen für die Finanzierung von Schulhäusern und Kindergärten konfrontiert. Bei der Durchsicht der Pläne stellte sie fest, dass diese häufig eine Architektur darstellen, die weit entfernt ist von den pädagogischen Gedanken Maria Montessoris. 2017 erhielt ich die Anfrage, ob ich Interesse hätte, Planvorlagen für Montessori-gerechte Schulräume zu zeichnen. Mein Gegenvorschlag war – und das hat mit meinen Erfahrungen in Syrien, Libanon und Äthiopien zu tun –, dass wir eine Entwurfsanleitung schreiben, die es Architektinnen und Architekten vor Ort ermöglicht, selbstständig kindzentrierte Klassenräume, Schulen und Kindergärten zu entwerfen. So entstand dieses Projekt mit dem Namen «Montessori Architecture: A Design Instrument for Schools».
Was ist das Ziel von «Montessori Architecture» und an wen richtet es sich?
Das Buch und die dazugehörige Website richten sich an alle, die sich für die Gestaltung einer Lernumgebung interessieren, in der das Kind im Zentrum steht. Es adressiert nicht nur Organisationen, die über die finanziellen Mittel verfügen, um Schulanlagen zu bauen, sondern auch einzelne Lehrpersonen und alle, die zu Hause eine solche Umgebung schaffen möchten. Es ist ein Versuch, die Gemeinsamkeiten von untersuchten Montessori-Schulen zu beschreiben. Im Gegensatz zu Rudolf Steiner und seiner anthroposophischen Architektur hat Maria Montessori keine formalen Vorgaben für die Architektur gemacht, doch hat ihre Pädagogik intuitiv überall auf der Welt zu ähnlichen Lernumgebungen geführt. Wir haben Schulen in Europa, Afrika und Asien miteinander verglichen und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet. Daraus haben wir 28 wiederkehrende Muster destilliert.
Dieses Entwurfsinstrument richtet sich an alle, die mit diesen Mustern arbeiten wollen. Das Buch ist aber kein Gesetzbuch, und es sind nicht die «28 Gebote der Montessori-Architektur». Es ist vielmehr ein Essay, ein erster Versuch. Wir laden Architekturschaffende ein, ihren Beitrag zu leisten, sich an einem Diskurs zu beteiligen und über weitere Muster nachzudenken.
Wie ist das Entwurfsinstrument aufgebaut?
Es basiert auf einer Struktur, die ähnlich wie eine Checkliste mit 28 Aufgaben funktioniert. Jede Aufgabe führt automatisch zur nächsten, und jede dieser Entwurfsaufgaben kann unterschiedlich gelöst werden. Die ersten drei Muster beschreiben allgemeingültige Entwurfskriterien, die alle anderen umfassen. Eine zweite Gruppe sind Stationen einer Dramaturgie von der Ankunft auf dem Schulgelände bis zum Betreten des Hauptlernbereichs, die dritte und vierte Gruppe befassen sich mit der Konfiguration und Gestaltung der Hauptlernbereiche. Die fünfte und sechste Gruppe beschreiben die Elemente, die diese Bereiche ergänzen und abrunden. Um ein holistisches Verständnis dessen zu schaffen, was sich hinter diesen Mustern verbirgt, haben wir drei Medien für denselben Inhalt verwendet: das geschriebene Wort, architektonische Pläne und Bilder.
Im «Repertoire» findet sich der Simba Vision Montessori Campus in Tansania. Anstelle eines Wettbewerbsprogramms sollten die 28 Muster angewandt werden. Wie kam es dazu und was ist der Vorteil davon?
Mit dem Wettbewerb haben wir eine erste Version des Buchs und der Website getestet: Können Architekturschaffende mit den Mustern arbeiten? Es ist uns gelungen, die Partnerorganisationen Usambara Sisters und Africa Amini Alama zu überzeugen, sich auf das Experiment einzulassen. So organisierten wir einen öffentlichen Wettbewerb, der sich an alle Architekturbüros in Tansania richtete. In der tradierten Vorstellung ist der Architekt oder die Architektin eine allwissende Person, die zentrale Entscheidungen in der Raumgestaltung fällt – ähnlich wie in der vorherrschenden «lehrerzentrierten» Pädagogik. Aber Montessori-Architektur funktioniert anders. Sie versucht, mehrere Stimmen auf Augenhöhe zu vereinen, in diesem Fall Pädagogik und Architektur. Die Muster führen zu einem kollaborativen Ergebnis. Sie sind bewusst so tituliert, dass sie in sich widersprüchlich sind, zum Beispiel «The avoidance of doors … but with respect for privacy». Wir haben etablierte Architekturschaffende in Tansania dazu gebracht, noch einmal zur Schule zu gehen, weil sie ihre gewohnten Modelle nicht mehr anwenden können. Die übliche Hierarchie zwischen den Architekten und Lehrerinnen konnte dank dem Interpretationsspielraum der Muster ausgeglichen werden: Was für den einen völlig neu war, war für die andere logisch und verständlich.
Für alle, die das Buch oder die Website nicht kennen: Woran erkennt man, ob ein Gebäude nach diesen Montessori-Mustern gebaut wurde?
Wenn der Lernbereich für eine Klasse so gestaltet ist, dass sich das Kind vor der Lehrperson verstecken kann, dann ist das Montessori-Architektur. Das ist beinahe alles, was man wissen muss. Die Anzahl der umgesetzten Muster drückt sich nicht in Baumasse oder Quadratmeter aus. Alle 28 Muster können in einem Raum umgesetzt werden. Die Simba Vision zum Beispiel besteht aus grossen höhlenartigen Räumen mit vielen Nischen, in denen die Kinder arbeiten können, ohne ständig beobachtet zu werden.
In einer «child-centered education» ist die Freiheit zentral. Aber wie frei sind die Kinder wirklich, wenn Erwachsene, Lehrpersonen oder die Architektur den Rahmen vorgeben?
Die Montessori-Bewegung spricht nicht von «freedom», sondern von «freedom within limits». Es geht darum, einen Umgang mit der Welt zu finden, und diese hat irgendwo eine Limite. Ich glaube, dass wir in einer Welt leben, die zu sehr auf den Freiheitsbegriff fokussiert ist. Sie geht zugrunde, weil wir nicht begreifen, dass wir die Grenzen respektieren sollen: Wir verbrauchen und beuten aus, bis nichts mehr da ist. Da sind uns die Montessori-Kinder weit voraus, weil sie die natürlichen Grenzen des Wachstums erlernen.
Wie gut passen die Montessori-Ansätze, die europäischen Ursprungs sind, nach Afrika?
Der Ansatz von Maria Montessori – das hat sie in ihren Texten beschrieben – war ein globaler: Sie hatte ein globales Verständnis von der Menschheit und der Kindheit. Je mehr Menschen sich in einer weltweiten Bewegung auf den gemeinsamen Nenner einigen können, desto umfassender wird diese. Nirgendwo wächst die Bewegung so stark wie in Afrika, einem Kontinent, auf dem auch die Bevölkerung massiv wächst. Immer mehr kindzentrierte Schulen werden hier umgesetzt. Ich finde, es tut der Montessori-Bewegung gut, wenn sie afrikanisiert wird und damit die noch etwas eurozentrische Dominanz bricht.
Welche Auswirkungen hat «Montessori-Architecture» auf dem afrikanischen Kontinent?
Aus dem Wettbewerb 2018 und den Workshops in Tansania ist eine kleine Architekturbewegung entstanden, die vor allem von jungen Architektinnen aus der Region getragen wird. Sie entwerfen immer mehr Schulen nach diesen Mustern – inzwischen auch in Kenia. Dort hat die Montessori-Bewegung kürzlich beschlossen, ebenfalls ein Schulhausmodell ähnlich der Simba Vision zu bauen. Wie in Tansania wird nun ein Wettbewerb durchgeführt. Besonders erfreulich ist, dass die jungen Architektinnen und Architekten aus Tansania, die sich seit einigen Jahren mit diesem Entwurfswerkzeug beschäftigen, jetzt in der Jury sitzen. Das ist eine schöne Entwicklung und wir hoffen, dass wir diese auch in den globalen Norden tragen können.
Was bedeuten die Erkenntnisse, die Sie in Afrika gewinnen, für die Schweiz?
Die Schularchitektur und Lernumgebung spielen vor allem dann eine Rolle, wenn nicht mehr die Lehrkraft im Zentrum steht, sondern das Kind. Wenn wir erkennen, dass wir eine andere Form der Pädagogik brauchen, die das Gelingen des Einzelnen für das Gelingen einer Gesellschaft begreift, müssen wir auch über eine alternative Gestaltung der Umgebung nachdenken. Die Montessori-Architektur beschränkt sich ausserdem nicht nur auf die Pädagogik, sondern kann auch in vielen anderen Bereichen Anwendung finden.