«Das ge­gen­sei­tige Ge­ben und Neh­men war im­mer zen­tral»

Gespräch mit Karl Baumann, Leiter Kunstbauten der RhB Infrastruktur

Karl Baumann ist seit 2002 Leiter Kunstbauten der RhB Infrastruktur und verantwortlich für die historischen und wertvollen Brücken, Viadukte und Tunnels auf den RhB-Strecken. Diese Kulturgüter benötigen eine besondere Pflege. Sie müssen aber auch – Charme, Wert und Kulturgut hin oder her – vor allem auch sicherheitsspezifische und betriebliche Anforderungen erfüllen. Ein neues Buch gibt einen Überblick über den Umgang der Bahn mit ihren Kunstbauten.

Date de publication
14-10-2024

Die Dualität von Erhaltung und Erneuerung stellt eine besondere Herausforderung dar. Es gilt, die historischen Bauwerke in ihrem ursprünglichen Zustand zu bewahren, und gleichzeitig die notwendigen Modernisierungen vorzunehmen, um den hohen Anforderungen an Sicherheit und Betriebsfähigkeit gerecht zu werden. Es bedarf eines tiefen Verständnisses sowohl für die technischen als auch für die historischen Aspekte der Bauwerke.

Das ist nicht einfach, nicht selbstverständlich und schon gar nicht voraussetzbar. Die notwendige intrinsische Motivation für solche Prozesse muss sich oft erst entwickeln – das weiss Karl Baumann gut.


Herr Karl Baumann, Sie waren der 2002 der erste Brückeningenieur bei der RhB. Worin lag die Notwendigkeit, einen Brückeningenieur wie Sie anzustellen? War man sich der Weitsichtigkeit dieser Entscheidung bewusst?

Das geschah auf Initiative von Heinz Dudli, dem Leiter Infrastruktur, und Leo Hirschbühl, dem damaligen Leiter Gesamtprojekte. Sie erkannten, dass die RhB ein grosses Problem mit dem Zustand ihrer Brücken hatte. Sie waren sich bewusst, dass eine nachhaltige Lösung nur durch fundiertes Ingenieurwissen erreicht werden konnte.


Wie gingen Sie mit dem für Sie neuen Thema der Bahntechnik um?

Als Projektierer hatte ich zunächst nicht viel Ahnung von Bahntechnik. Das zeigte sich etwa 2003 bei der Instandsetzung der Brücke Sasslatsch im Unterengadin: Die Brücke befand sich in der Nähe der Station. Die dortige Sicherheitstechnik bestand darin, dass eine Schiene isoliert war, die andere nicht. Fuhr ein Zug in die Station, schloss er den Kreis, und es gab ein Signal, sodass kein zweiter Zug einfahren konnte. Ich wusste das nicht und plante die Brücke konventionell. Das gab dann erstmal einen Kurzschluss. 


Was ist der Mehrwert der Verknüpfung von Kompetenz in Brückenbau und Bahntechnik? 

Über Bahntechnik weiss ich auch nach 22 Jahren immer noch zu wenig. Dieses Wissen decken wir ebenfalls mit internen Fachleuten ab. Was ich nun aber zusätzlich liefern konnte, seit ich die Leitung Infrastruktur übernommen hatte, ist das Wissen um den Brückenbau in der Ausführung – sozusagen das Rüstzeug im Brückenbau: Wie kann ich eine Brücke verschieben? Wie kann ich eine Brücke unter speziellen Bedingungen aufstellen? Nicht einfach einen simplen Bau auf der Wiese, sondern erschwerte Bauvorgänge in anspruchsvollem Terrain und meist bei laufendem Betrieb. Das ist das Wissen, das jeweils von mir kam. Wie die Konstruktion dann genau aussieht, haben wir dem projektierenden Ingenieur überlassen. 


Nach 22 Jahren Arbeit bei der RhB werden Sie pensioniert. Vorher erscheint die Denkschrift «Gestaltete Infrastruktur», die nicht nur Fakten und Leistungen präsentiert, sondern auch eine umfassende Reflexion über die Arbeit der vergangenen Jahre enthält. Wie reflektieren Sie Ihre Arbeit in diesem Kontext?

Das Buch kann als eine Bündelung von Empfehlungen für die RhB – oder als Wissenstransfer auch für andere Unternehmen – verstanden werden. Es gibt den Anstoss, über die Vergangenheit hinauszudenken, und zeigt mögliche Wege auf, für eine Weiterentwicklung. Das Buch setzt die Arbeit in einen grösseren historischen, wirtschaftlichen und durchaus auch sozialen Kontext. Es geht darum, die geleistete Arbeit, die entworfenen und umgesetzten Projekt als Werk an sich zu verstehen und zu analysieren. So lässt sich schliesslich auch die Bedeutung und der Einfluss der Leistung – im Speziellen z.B. der Normalbauweise – besser verstehen.

Die eigene Arbeit zeigt einem dabei auch die eigenen Grenzen auf. Es ist alles Teamarbeit; ich sehe mich als Trainer einer Mannschaft. Wichtig ist, dass Aufträge sowohl für die Planenden als auch die Unternehmungen rasch herausgegeben werden. Sie müssen nicht bis ins Detail vorgegeben werden, sondern nur in der Stossrichtung. Ohne eine rasche Reaktion und Herausgabe von Aufträgen seitens des Bauherrschaft können Unternehmer und Ingenieure ihre Arbeit nicht machen. Das zu realisieren und strikt umzusetzen, war sicher einer meiner Erfolgsfaktoren.

→ Die Vernissage der Publikation «Gestaltete Infrastruktur – Die Brücken der Rhätischen Bahn in der zweiten Generation» findet am 18. Oktober um 17:30 Uhr im Bahnmuseum Bergün statt. 

 

Anmeldung via karl.baumann [at] rhb.ch


Es gibt bei auf dem Netz der RhB eine gewisse Einheitlichkeit in der Gestaltung, beim Mauerwerk, beim Stein, beim Stahl. Alles erscheint wie aus einer Hand. Seit 2015 arbeitet die RhB aber auch mit Wettbewerbsverfahren, und seither beteiligen sich sehr viele und unterschiedliche Planende an der Weiterentwicklung des Bauwerks RhB. Wie gelingt es, dabei eine durchgängige Gestaltung zu bewahren? 

Wettbewerbe sind immer ein Zusammenspiel zwischen Ingenieur, Architekt und Landschaftsplanern. Es geht darum, dass die Massstäblichkeit eines Bauwerks stimmt, es in die Umgebung passt. Das ist wichtig, denn die RhB liegt in einer kleinräumigen, feingliedrigen Landschaft. Dabei müssen wir aber keinesfalls den Anspruch haben, zu bauen wie der einstige Oberingenieur Friedrich Hennings. Vielmehr müssen wir einfach hochwertig bauen. Darin liegt letztlich die gelungene Weiterentwicklung des Werts der RhB. 

Wettbewerbe sind dafür das richtige, wegweisende und hochwertigste Planungsinstrument. Denn bei einem Wettbewerb setzt man sich viel stärker mit dem Entwurf auseinander, als wenn man nur ein Vorprojekt ausführt. Die Phase ‘Entwurf’ gewinnt an Gewicht, woraus sich schliesslich der Mehrwert ergibt. Und ja, die so entstandenen neuen Bauwerke sind alle komplett anders. Auch kann man wohl nicht behaupten, dass sie zu Hennings Bauweise passen. Aber sie passen in ihre Umgebung. Und sie nehmen mit der Normalbauweise das System der Normalien auf. Das verbindet die Historie mit der Gegenwart und hoffentlich auch mit der Zukunft. Hennings hätte das zu seiner Zeit sicher anders gemacht, aber heute gibt es andere Methoden und darum auch andere Projekte.


Wettbewerbe helfen, die Expertise von Ingenieuren, Architekten, Landschaftsplanern und Denkmalpflegern zu nutzen. Was war 2014 der initiale Anstoss für den Wettbewerb zur Hinterrheinbrücke, dem ersten, den die RhB durchführte?

Die Hinterrheinbrücke stand wegen ihres Zustands einfach an. Die Situation, etwa die Lage im Korridor des UNESCO-Weltkulturerbes, und die Randbedingungen erforderten einen Wettbewerb, insbesondere wegen der hohen Qualitätsansprüche an die Planungsleistungen. In den Richtlinien der Denkmalpflege und auch in jenen der UNESCO ist festgelegt, dass man die höchstmögliche Kompetenz in der Planung haben muss, um überhaupt einen Ersatzbau in diesem Gebiet realisieren zu können. Die Notwendigkeit eines Ersatzbaus und die öffentliche Wahrnehmung führten also zur Durchführung des ersten Wettbewerbs der Hinterrheinbrücke bei der RhB.

Wir brauchten allerdings Jahre, um uns an die Aufgabe heranzutasten und sicherzustellen, dass auch die Gestaltung in die Entwicklung der Projekte gehaltvoll und qualitativ hochwertig einfloss. Jürg Conzett war oft unser Berater und hat das Dokument ‘Umgang mit Kunstbauten – Brücken’ erstellt. Zu dieser Zeit schrieb ich ausserdem die Schrift ‘Brückenbau’ für die Vorlesung an der Fachhochschule Graubünden, in der die Gestaltung ebenfalls Thema war. Diese gedanklichen Auseinandersetzungen sensibilisieren einen, führen einen an die kommenden Aufgaben heran und lassen ein verstehen, dass der Weg nur über Wettbewerbe gehen kann. 


Viele Bauten der RhB Infrastruktur stehen unter Denkmalschutz. Wie war die Zusammenarbeit mit Denkmalpflege und Ingenieurwesen? Was waren die grössten Herausforderungen?

Es gibt oft Spannungen zwischen den pragmatischen Ansätzen der Ingenieure und den eher idealistischen Vorstellungen der Denkmalpflege. Die Zusammenarbeit zwischen Denkmalpflege und Ingenieurwesen ist geprägt von vielen Diskussionen. Sie entstehen aus einem inneren Antrieb, das Fachwissen umsetzen zu wollen, das aber teils diametrale Ansprüche zu erfüllen hat. Der Dialog ist aber auch durch das gegenseitige Verständnis und den Willen getrieben, eine Lösung zu finden.

Man sollte erkennen, dass durch diese Auseinandersetzungen Mehrwert entsteht. Es braucht diesen Teil, um das Bauwerk RhB weiterführen zu können. Die Ingenieure entwerfen oft seelenlose Projekte, aber die Denkmalpflege bringt das notwendige Verständnis und die Empathie für den Erhalt der historischen Substanz mit. Ich habe oft an den Diskussionen gelitten, aber letztendlich führte es zu besseren Ergebnissen.


Was ist notwendig, um die RhB in die Zukunft zu tragen? Neugier? Leidenschaft? Das Zusammenbringen von interdisziplinärem Fachwissen?

Bei der RhB spielt ganz speziell auch der Stolz mit. Die RhB-Mitarbeitenden sind sehr stark mit der Unternehmung verbunden – es ist eine Art familiäre Beziehung zwischen der RhB und den Mitarbeitenden. Ich habe immer darauf geachtet, die Bahndienstmitarbeiter und die Arbeiter der Unternehmungen zu würdigen. Wir haben diese Wertschätzung auch immer sehr gepflegt, indem wir nach jedem grösseren Bauprojekt ein Aufrichtfest feierten. Das war manchmal in einem Extrazug, an einem speziellen Ort oder mit einer speziellen Bewirtung. Das gegenseitige Geben und Nehmen war immer zentral.

→ Eine Langversion dieses Interviews finden Sie in der Publikation.

Karl Baumann, Clementine Hegner-van Rooden: Gestaltete Infrastruktur. Die Brücken der Rhätischen Bahn in der zweiten Generation. Scheidegger & Spiess, Zürich 2024. 240 Seiten, 130 farbige und 50 s/w- Abbildungen, 23 x 30 cm, gebunden, ISBN 978-3-03942-216-6, Fr. 69.–

 

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