Brüc­ken am ve­rei­nig­ten Fluss

Historische Hinterrheinbrücke erhält Schwester

Wo Hinter- und Vorderrhein zusammenfliessen, prägen Brücken den Weiler ­Reichenau. Seit dem 14. Jahrhundert sind sie Teil des Landschaftbilds. Nun kommt eine neue hinzu.

Data di pubblicazione
26-11-2015
Revision
17-12-2015

Die Rhätische Bahn (RhB) ist bekannt für ihr meterspuriges Netz mit Infrastrukturbauten von historischem Wert. Die berühmtesten RhB-Strecken sind die Bernina- und die Albulalinie, die seit Juli 2008 zum UNESCO-Welterbe zählen. Die RhB ist sensibilisiert für einen pfleglichen Umgang mit ihren Bauwerken. Dafür hat sie Experten, Planer und Unternehmer um sich scharen können. Nun ist sie erstmals in ihrer 125-jährigen Geschichte noch einen Schritt weiter gegangen und hat den ersten formellen Wettbewerb im Sinn des SIA ausgeschrieben: für eine zweite Hinterrheinbrücke in Reichenau. Seit Ende September ist bekannt, wie diese Brücke aussehen soll.

Reichenau1 ist topografisch und historisch ein aussergewöhnlicher Ort. Hier fliessen Hinter- und Vorderrhein zusammen. Am Zugang der beiden Täler führen von alters her wichtige Wegverbindungen durch. Waren diese historischen Wege ursprünglich eher den Hangfüssen gefolgt und hatten den Rhein andernorts überquert, wurde der Brückenkopf in Reichenau spätestens im 14. Jahrhundert zu einer Schlüsselstelle im bündnerischen Verkehrsnetz und später mit der Bernardino-Passstrasse ein bedeutender Streckenabschnitt des europaweiten Transitverkehrsnetzes. 

Bemerkenswerte Topografie

Die Topografie im Bereich des Zusammenflusses ist einzigartig. Der Felskopf des Schlosses Reichenau im Norden und die Ausläufer der Anhöhen Ils Aults im Süden formen eine markante Talenge, die die beiden Flüsse frontal aufeinander zufliessen lässt, bevor sie als vereinigter Rhein nach Osten abdrehen. Dieses Engnis ist auch für die Lage der alten Brücken über den Rhein zum Schloss Reichenau verantwortlich. Beim Bau der Eisenbahn wurde der südliche Sporn erstmals angeschnitten, dann weitere Male 1962 bei der Erweiterung des Bahnhofs Reichenau-Tamins im Zug des Doppelspurausbaus ab Chur und 1963 beim Bau der Autobahn A13. Bei Letzterem sind die engen Platzverhältnisse zwischen Berg und bestehenden Brückenbauten offensichtlich.

Jürg Conzett, Bauingenieur und Mitglied der Wettbewerbsjury, bedauert, dass die neueren Strassenbrücken eine Art «Anti-Ensemble» zu den alten Fachwerkbrücken bilden: «Obwohl von bedeutenden Brückenbauern konzipiert, sind sie Entwürfe, die eine in sich stimmige und kohärente Brückenlandschaft gesprengt haben.» Trotzdem bleibt Reichenau eine von zahlreichen wertvollen Zeitzeugen geprägte Landschaftskammer.

«Auf dem linken Felssporn soll nur ein Zollhaus ge­standen haben, bis Anfang des 17. Jahrhunderts herrschaftliche Gebäude errichtet wurden, aus denen sich die heutige Schlossanlage entwickelt hat», weiss Johannes Florin, Architekt, Berater der kantonalen Denkmalpflege Graubünden und ebenfalls Mitglied der Wettbewerbsjury. Das Schloss mit seinen umliegenden Bauten ist heute die einzige grössere klassizistische Anlage der Region, und der ihm vorgelagerte, bis zum Rhein hinab­reichende Garten ist weitgehend im ursprünglichen Zustand erhalten.

Der Dorfkern von Tamins und das Schloss Reichenau sind je im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS) aufgeführt. Weiter ist die südlich der Bahnlinie respektive der A13 liegende Flusslandschaft des Hinterrheins mit der östlichen Talflanke Teil des Bundesinventars der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung (BLN). Das Inventar der historischen Verkehrswege der Schweiz (IVS) nennt als Strassenabschnitte von nationaler Bedeutung die Kantonsstrassen Chur–Reichenau-Tamins/Thusis (GR 13 und GR 9) und Reichenau–Ilanz (GR 71).

Bedeutende Brücken en masse

Der Ort ist auch kunstbaugeschichtlich interessant: Zwei Brücken, eine über den Vorderrhein und eine über den vereinigten Rhein, gestatteten hier seit Anfang des 16 Jahrhunderts2 eine effiziente Wegführung der «Unteren Strasse» (Chur–Splügen-/Bernardinopass) und verknüpften diese mit der Verbindung Richtung Oberland/Lukmanier- und Oberalppass. Heute nutzt der Strassenverkehr die 1963 gebaute A13, die vormaligen Brücken wurden ersetzt.

Über den vereinigten Rhein spannt sich seit 1881 eine eiserne Fachwerkbrücke, die die Eisengiesserei- und Façonschmiede Mertin, Crétin, Borner & Cie. in Romanshorn erstellte. Die 70 m weit gespannte Brücke wird zurzeit instand gesetzt. Etwa an derselben Stelle standen von 1757 bis 1799 eine der damals am weitesten gespannten Holzbrücken von Johannes und Hans-Ulrich Grubenmann (vgl. TEC21 42-43/2009) und von 1814 bis 1881 eine Holzbrücke von Johann Stiefenhofer.

Weitere bedeutende Brücken vor Ort sind die Rheinbrücke Tamins von Christian Menn von 1963 mit einer Spannweite von 100 m, die Lavoitobelbrücke mit einer Spannweite von 106 m, die Mirko Robin Roš mit Max Bill 1967 projektierte und die gegenwärtig instand gestellt wird, und schliesslich die Hinterrheinbrücke, die die RhB 1895 von den Firmen Buss AG, Basel (Fundamente und Pfeiler), und Bell AG, Kriens (eiserne Träger), ausführen liess (vgl. Situationskarte).

Die dreifeldrige eiserne Fachwerkbrücke mit parallelen Gurten und vierfachem Strebenzug ist eine Flussüberquerung nach klassischem Muster. Ihre Spannweiten betragen 44.10 + 63.00 + 44.10 m. Sie ist ein Beispiel für den hohen Stand der schweizerischen Brückenbautechnik der vorletzten Jahrhundertwende. Ihre präzise gemauerten Pfeiler und der filigrane genietete Fachwerkträger zeugen von den handwerklichen Fertigkeiten ihrer Erbauer. Der engmaschige Fachwerkträger gehört zu den letzten seiner Art, die für Eisenbahnen noch voll in Betrieb stehen.3

Entsprechend hoch ist der denkmalpflegerische Wert dieses Bauwerks. Conzett präzisiert: «Die historische Hinterrheinbrücke ist bis heute Teil des Rests eines starken Brückenensembles mit der erhaltenen ‹Schlossbrücke› von 1881 über den vereinigten Rhein. Zudem ist sie Teil einer nicht direkt sichtbaren geschichtlichen Entwicklung. Die räumliche und die zeitliche Dimen­sion belegen ihre hohe Bedeutung als Baudenkmal.»

Die Suche nach einer Neuen

Nun hat die RhB im Hinblick auf die Stabilisierung des Verkehrsnetzes und auf den Ausbau des Angebots eine Verlängerung der Doppelspur in Reichenau projektiert. Das Nadelöhr Hinterrheinbrücke verschwindet, und die Surselva- und die Albulalinie erhalten bereits vor der Flussüberquerung je ihre eigene Linie. Um dem wertvollen Umfeld und insbesondere der historischen Brücke Rechnung zu tragen, soll für die Doppelspur eine neue, unabhängige einspurige Brücke gebaut werden.

Für den Bau dieser zweiten Hinterrheinbrücke inklusive des Baus der zweiten und des Ersatzes der bestehenden Überführung über die Nationalstrasse A13 sowie der Neugestaltung der landschaftlichen Umgebung hat die RhB einen Projektwettbewerb im anonymen, einstufigen und offenen Verfahren lanciert. Das Siegerprojekt soll das Umfeld ebenbürtig ergänzen und es um ein heutiges Bauwerk bereichern.

Christian Florin, Leiter Infrastruktur bei der RhB und Präsident der Wettbewerbsjury, bezeichnete die Aufgabe als ungewöhnlich: «Es galt, eine wertvolle eiserne Bahnbrücke aus dem 19. Jahrhundert mit einer neuen in unmittelbarer Nähe zu ergänzen, erschwert durch die Sachzwänge der Querung der Nationalstrasse.»

Mit dem Siegerprojekt «Sora Giuvna», «junge Schwester» (vgl. «Brückenduett»), erhalte die RhB eine Brücke, die durch ihre Konzeption besteche, freut sich Conzett und ergänzt: «Das Projekt schafft Ordnung, indem es die Vielfalt der Eisenbahnbrücken reduziert.» Das Siegerteam weiss die «Serienschaltung» von vier aneinandergereihten Eisenbahnbrücken auf eine «Parallelschaltung» von zwei Brücken zu reduzieren (vgl. Grafiken).

Die neue Brücke wird flussaufwärts (südlich) der historischen stehen. Diese Linienführung tangiert die Flussufer am wenigsten und belässt das Ensemble von Schloss Reichenau und den beiden Fachwerkbrücken räumlich intakt. Künftig fahren die Züge der stärker frequentierten Albulalinie über die neue Brücke. Dadurch verlängert sich die Lebensdauer der bestehenden, weil die Materialermüdung reduziert wird.

Zwischen den Überführungen über die A13 und dem Bahnhof Reichenau-Tamins soll die heute auf kurze Distanz mehrfach gekrümmte Linienführung begradigt werden. Der Hangabschluss südlich der Gleise wird bergwärts versetzt. Der parallel zur Bahn höher verlaufende Polenweg4 muss in diesem Bereich neu angelegt werden.

Die RhB schlug drei mögliche Linienführungen A, B und C vor, die bahnbetrieblich gleichwertig sind. Die Wahl der Linienführung und der Entscheid für einen bestimmten Brückentyp standen in einem engen Zusammenhang – so stand A für eine räumliche Kompaktheit und Bündelung, C für eine stärkere Absetzung des neuen Projekts von der bestehenden Brücke, und B wurde als Mittelweg aus A und C in den Wettbewerb aufgenommen. Die Wettbewerbsteilnehmer konnten eine der drei vorgeschlagenen Linienführungen wählen.

Paarbildung bei hohem Altersunterschied

Die Haltung der teilnehmenden Projektteams, wie das Brückenduett zueinanderfinden soll, widerspiegelt sich in den Eingaben. Analogien und modernisierte Kopien wurden bei der Wettbewerbseingabe ebenso eingereicht wie Neuinterpretationen und Weiterführungen bis hin zu völlig losgelösten Konstruktionen. Die Paarbildungen waren nachvollziehbar, erzwungen oder selbstverständlich. Die Konstruktionen wurden in Form von Stahl- oder Betonfachwerken, Balken-, ­Vouten- oder Vollwandträgern, Trögen oder V-Stiel-­Brücken ausgearbeitet. Einen der sechs Entwürfe mit V-Stielen empfand die Jury schliesslich als die richtige Antwort auf die komplexe Aufgabenstellung (vgl. «Brückenduett»).

 

Anmerkungen

1 Der Name Reichenau geht vermutlich auf Besitzungen des Klosters Reichenau auf der Bodenseeinsel zurück.

2 Ab 1522 sind beide Zollbrüchen schriftlich bezeugt; Quelle: IVS (GA Trin, Urkunde 14).

3 Aus dem Wettbewerbsprogramm zweite Hinterrheinbrücke Reichenau.

4 Als Polenweg werden in der Schweiz Waldwege, Feldwege und Strassen bezeichnet, die während des Zweiten Weltkriegs von internierten Soldaten der 2. polnischen Schützendivision angelegt oder ausgebaut wurden.

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