«Wir sollten hinterfragen, wie die Projekte beurteilt werden»
SIA-Masterpreis Architektur 2016
Carte Blanche: Jonathan Sergison, Mitbegründer Sergison Bates architects und Professor an der Accademia di Architettura di Mendrisio, über die Ausbildung der Architekturstudierenden an Schweizer Hochschulen und die Projektauswahl beim SIA-Masterpreis Architektur.
Zwar sind verschiedene Faktoren mit im Spiel, doch der Zustand der architektonischen Kultur jedes Landes ist eng mit der Struktur und der Qualität der Ausbildung der Architekturstudierenden verknüpft. Im Fall der Schweiz lässt sich kaum bestreiten, dass diese Kultur tatsächlich «gesund» ist. Die drei eidgenössischen Hochschulen – die ETH Zürich, die EPF Lausanne und die Accademia di architettura di Mendrisio – sind zusammen mit den regionalen Hochschulen und Fachhochschulen bemerkenswerte Bildungsstätten, die klar strukturierte, sorgfältig organisierte Kurse anbieten, die auf gemeinsam vereinbarten Regelungen basieren.
Dafür verdienen die drei eidgenössischen Hochschulen viel Lob. Das allgemeine Niveau der Schweizer Architekturausbildung gehört meiner Meinung nach zu den besten der Welt. An allen Schweizer Hochschulen herrscht weitgehend die Überzeugung, dass der primäre Zweck einer Architekturausbildung darin besteht, die Studenten auf Aufgaben vorzubereiten, die sie übernehmen werden, wenn sie ihr Diplom bestanden haben. Das mag sich selbstverständlich anhören, aber in vielen Architekturhochschulen in Grossbritannien und Nordamerika herrscht eine grosse Diskrepanz zwischen den Übungen, die Studierende in Entwurfskursen machen, und dem, was aus der Sicht eines Architekten in der Praxis gefordert wird. Letzten Endes ist diese Lücke ist so gross, dass viel von dem, was Studierende wissen und meinen zu wissen, zunächst einmal verlernt werden muss, bevor sie in der Praxis einen hilfreichen Beitrag leisten können.
Die Ausbildung vieler Studierenden an britischen und nordamerikanischen Hochschulen fördert recht esoterische Formen des Experimentierens, das jenseits der Verrücktheiten von akademischen Lehrern wenig anwendbaren Nutzen und Zweck hat. Dies kann man den Entwurfskursen an schweizerischen eidgenössischen Hochschulen nicht vorwerfen.
Damit meine ich nicht, dass es in Lausanne, Mendrisio und Zürich kein Experimentieren gibt – das Experimentieren nimmt vielmehr die Form einer Spekulation über einen künftigen Zweck an. Natürlich sind einige Studenten besser als andere, aber in der Regel verfügen alle über ein hohes Niveau an Entwurfsfähigkeiten, technischer Kompetenz und allgemeinem Wissen über Geschichte und Theorie der Architektur. Einige Studenten besitzen all diese Merkmale im Überfluss, obwohl der SIA-Masterpreis Architektur die erste dieser drei Facetten durch die Anerkennung von herausragenden Diplomarbeiten im Bereich Entwurf hervorhebt.
Weiter stelle ich fest, dass an diesen Hochschulen die aussergewöhnlichsten praktizierenden Architekten und Lehrenden unterrichten. Nicht jeder gute Architekt ist ein guter Lehrer, doch hierzulande wurde sehr viel Sorgfalt darauf verwendet, Architekten zu finden, die sich gleichermassen für die Praxis und für die Lehre engagieren. Eine konzeptuell anspruchsvolle Architekturpraxis in Verbindung mit nachweislich erfolgreicher Erfahrung als Lehrender sind Voraussetzungen für eine Berufung als Professor an eine der drei eidgenössischen Hochschulen. Ihre Aufgeschlossenheit, auch Beiträge von nicht-schweizerischen Protagonisten in die Lehre einzubeziehen, zeigt den Willen, ein breites Spektrum von Positionen zu finden – nicht nur in einer engen Bandbreite nationaler Quellen, sondern in einem weiteren europäischen und internationalen Umfeld. Die Bereitschaft, trotz der Anzahl begabter Schweizer Architekten auch Architekten aus dem Ausland einzuladen, ist ein Hinweis auf kulturelle Neugier und etwas, wofür ich persönlich dankbar bin.
Das Ergebnis dieser unterschiedlichen Einflüsse ist eine Vielfalt von sehr scharf umrissenen und unterschiedlichen Positionen. Erfreulicherweise ist die Atmosphäre in den Schweizer Architekturhochschulen nach meiner Erfahrung von gegenseitigem Respekt statt von jenem Konkurrenzdenken geprägt, das ich an Londoner Hochschulen erlebt habe. Ich kann nur zu dem Schluss kommen: Die Gründe dafür, dass es diese kleinkarierte Rivalität nicht gibt, liegen in der Sicherheit der Positionen der lehrenden Professoren.
Ich glaube, dass ich einen kritischeren Tonfall wählen muss, wenn es um die Art und Weise geht, wie die Projekte für den SIA-Masterpreis Architektur ausgewählt werden und die Jury zusammengesetzt wird.
Die Auszeichnung wird zweifellos an gute Projekte vergeben – aber ich glaube nicht, dass sie das Allerbeste der drei Hochschulen repräsentieren. Im Fall der Accademia di architettura in Mendrisio weiss ich, dass es nicht diejenigen Projekte sind, die die besten Bewertungen der Professoren oder die positivste Beurteilung der Diplomkommission erhielten. Ich meine aber, diese Bewertungen sollten ernsthaft berücksichtigt werden, statt Projekte unabhängig von den Schulen auszuwählen. Obwohl dies eine gewisse Freiheit schafft, meine ich, dass eine bestimmte Art des Engagements fruchtbarer wäre.
Ich schlage vor, dass die Hochschulen ein oder zwei Projekte aus jedem Entwurfsprogramm auswählen; diese Nomination wäre an sich schon eine Auszeichnung, so wie allein die Nominierung für den Mies-van-der-Rohe-Preis schon eine Referenz ist. Die Auswahl der besten Projekte aus einer Liste von Kandidaten, die von jeder Hochschule zusammen mit einer Begründung eingereicht werden, würde die Beurteilung leichter handhabbar, fokussierter und präziser machen.
Die Rolle und die Verantwortung der Jury eines Architekturwettbewerbs hat eine lange institutionelle Tradition in der Schweiz, aber in diesem Fall scheint mir die richtige Struktur noch nicht gefunden zu sein. Aus meiner Sicht wäre es nachvollziehbarer, einen Professor aus jeder der drei Hochschulen mit einzubeziehen, um den Austausch und das gegenseitige Verständnis unter den Schulen zu fördern. Logisch wäre auch, einen Vorsitzenden der Jury zu haben, die in den Prozess der Beurteilung aller in die engere Wahl genommenen Projekte einbezogen würde. Zudem sollte im Sinn der Konsistenz dieselbe Jury die Arbeiten aller drei Hochschulen beurteilen.
Ich möchte mit diesen Vorschlägen keine Kritik an der Arbeit der Jury üben, sondern lediglich hinterfragen, wie die künftige Struktur aussehen könnte. Architekturpreise lassen sich leicht kritisieren, wenn man nicht gerade selbst der glückliche Gewinner ist, aber der SIA-Preis sollte als eine bedeutende Auszeichnung wahrgenommen werden. Das verlangt von uns, dass wir hinterfragen, wie Projekte beurteilt werden. Im Moment habe ich Zweifel daran, dass der SIA-Preis die allerbesten Projekte auszeichnet.
«Die Schulen leisten einen grossen Beitrag an die weltweit anerkannte Qualität der Schweizer Architektur»
Franz Bamert, Architekt und Jurymitglied beim SIA-Masterpreis Architektur, über den Artikel von Jonathan Sergison.
espazium.ch: Trotz dem guten Niveau – gemäss Jonathan Sergison eines der höchsten der Welt – in den drei akademischen Hochschulen, die eine Architekturausbildung anbieten, unterstreicht Sergison in seinem Text eine Schwäche im Experimentieren und an kritischer Herangehensweise. Wie sehen Sie das?
Franz Bamert: Ich lese im Text von Herr Sergison nicht unbedingt von der Schwäche im Experimentieren oder von einer unkritischen Herangehensweise, sondern vom Augenmerk der Schulen auf die Umsetzbarkeit der Projekte. Es stimmt ja, in der Schweiz wird der Detaillierung, der Konstruktion und den Fachplanungen grosses Gewicht beigemessen. Insbesondere die Masterarbeiten der ETH Zürich gehen weit über die Analyse- und Experimentierphase heraus und zeigen einen starken Bezug zur Realität. Da zeigen sich auch die massgeblichen Unterschiede zwischen den Masterarbeiten. Dieser vielschichtige Prozess muss während einer Masterarbeit komplett durchgestanden werden. Am Schluss soll ein Projekt präsentiert werden, das auf der vorgegebenen Anzahl Stellwände die einzelnen Schritte von der Auseinandersetzung mit dem Thema, bis zur definitiven Festlegung, für eine unabhängige Jury nachvollziehbar abbildet. Diese Anforderungen basieren meines Erachtens auf dem in der Schweiz nach wie vor gelebten Anspruch des Architekten, als Generalist tätig und nicht einem Baumanager unterstellt zu sein. Hier leisten die Schulen einen grossen Beitrag an die weltweit anerkannte Qualität der Schweizer Architektur.
espazium.ch: In Bezug auf den SIA-Masterpreis Architektur wirft Sergison die Frage nach der Vorauswahl der Projekte und der Zusammensetzung der Jury auf. Können Sie uns sagen, wie die Auswahl getroffen und wie die Jury gebildet wird? Wie reagieren Sie auf seine Kritik?
Franz Bamert: In den letzten Jahren setzte sich die Jury jeweils aus sechs Architektinnen und Architekten zusammen. Bei jeder Jurierung dabei waren der Präsident der SIA-Berufsgruppe BGA und des SIA-Fachvereins A&K sowie je ein/e Vertreter/in der Regionen deutsche, französische und italienische Schweiz (Vorstandsmitglieder A&K). Dazu kam bei jeder Jurierung ein/e Vertreter/in der ortsansässigen Sektion des SIA (Zürich, Waadt, Tessin). Beurteilt wurden jeweils alle abgegebenen Masterarbeiten anhand der in der Ausstellung präsentierten Unterlagen. Von den 80–130 Masterarbeiten pro Jurierung wurden maximal drei mit dem SIA-Masterpreis Architektur ausgezeichnet. Alle Preisträger erhielten 1000 Franken Preisgeld und eine Urkunde.
Die Zusammensetzung und Kontinuität der Jury ermöglicht einen Überblick über sämtliche Masterarbeiten, die an den drei Hochschulen abgegeben werden, mit gleichzeitigem Eingehen auf die unterschiedlichen Vorgehensweisen. Dabei war die Jurierung in Zürich aufgrund der vergleichbaren Aufgabenstellung und der grösseren Anzahl Stellwände einfacher als zum Beispiel in Lausanne, wo jede/r seine eigenes Thema hat, oder in Mendrisio, wo von den Studenten eine stark reduzierte Auswahl der präsentierten Unterlagen gefordert wird. Aus diesem Grund wurden die Arbeiten in Lausanne und Mendrisio jeweils von Mitgliedern der ortsansässigen Sektion eingelesen und der Jury vorgestellt.
Die Jurierung des SIA-Masterpreis steht im Umbruch. Wir möchten die Masterarbeiten an den Fachhochschulen mitberücksichtigen. Das bedingt eine Veränderung in der Preisvergabe und in der Jurierung. Eine Arbeitsgruppe der SIA-Berufsgruppe Architektur BGA ist daran, ein neues Verfahren zu entwickeln.
espazium.ch: Sie sitzen seit mehreren Auflagen in der Jury und haben damit einen recht umfassenden Überblick über die Ausbildung an den Hochschulen. Was sagen uns diese Masterarbeiten über die Entwicklung der Schulen und die Anliegen der Studenten?
Franz Bamert: An der ETH Zürich erhalten die Studierenden einen Auftrag im Sinn eines Wettbewerbs oder Direktauftrags in einer vorgegebenen Situation, mit vorgegebenem Raumprogramm sowie mit Wünschen und Vorstellungen eines imaginären Auftraggebers. Pro Semester stehen drei Themen zur Auswahl. Ausgestellt werden die Arbeiten auf vier Stellwänden und mit vorgegebenem Gipsmodell.
An der EPF Lausanne werden die Themen und das Programm von den Studenten selber entwickelt und auf zwei Stellwänden und mit ganz unterschiedlichen Modellen präsentiert. Begleitet werden sie von einem Beraterteam aus Schule und Praxis.
An der AA Mendrisio steht die Sensibilität für stadt- und landschaftsräumliche Entwicklungen im Vordergrund. Daraus erwächst die Architektur des einzelnen Objekts. Anfangs wird in der Gruppe ein Lehrstuhlthema bearbeitet und anschliessend individuell weiterentwickelt. Zur Präsentation steht nur ein ein Meter breiter Streifen zur Verfügung, dafür aber ein grosser Modellraum.
Die Vorgehensweisen und Präsentationsmöglichkeiten sind also an den drei Schulen sehr unterschiedlich. Sie spiegeln das vielschichtige Spektrum der Entwicklungsmöglichkeiten eines frisch ausgebildeten Architekten wider. Einerseits in Zürich der Architekt, der über den Wettbewerb oder Direktauftrag ein konkretes Bauvorhaben entwirft und umsetzt, andererseits in Lausanne der Architekt, der selber Projekte anreisst und Voraussetzungen dafür schafft, dass diese umgesetzt werden können, und in Mendrisio der Architekt, der stadt- und landschaftsräumlich denkt und daraus Entwicklungspotenziale erarbeitet. Alle drei Ansätze sind sicherlich gleichermassen wertvoll, um bei den angehenden Architektinnen und Architekten ein reflektiertes Entwurfsverständnis zu wecken.
Interview: Cedric van der Poel