In der Bau­tra­di­tion der Bünd­ner Bo­gen­brüc­ken

Punt Val Mulinaun, Rabius GR

Seit Juni 2017 rollt der Verkehr ein Stück geradliniger in Richtung Oberalppass. Eine neue Bogenbrücke von Schnetzer Puskas Ingenieure begradigt eine Kurve bei Rabius und ist ein Beispiel für ein statisch effizientes Bauwerk mit gelungener Gestaltung.

Data di pubblicazione
19-10-2017
Revision
19-10-2017

Oberhalb des Vorderrheins schlängelt sich die Hauptstrasse 19 kurvenreich von Reichenau auf den Oberalppass. Eine neue Bogenbrücke überspannt nun die Val Mulinaun und begradigt den rund 1.3 km langen Strassenabschnitt zwischen Rabius und Sumvitg – folgte doch die bisherige instandsetzungsbedürftige Betonfahrbahn dem Geländeeinschnitt.

Effizienter Wettbewerb

Für den Brückenentwurf schrieb das Tiefbauamt Graubünden 2013 einen anonymen, zweistufigen Wettbewerb aus (vgl. TEC21 37/2014). In der ersten Phase waren nur eine Ideenskizze der Brücke und ein Kurzbeschrieb einzureichen. 37 Projektvorschläge gingen hierzu ein. Sechs Teams wurden daraufhin eingeladen, in einem reduzierten Vorprojekt ihren Brückenentwurf auszuarbeiten, die Hauptmassen zu ermitteln und die technische Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit zu belegen. Aufgrund der überschaubaren Abgabeleistungen in der ersten Phase und danach erhöhter Gewinnchancen bei steigendem Aufwand ist ein solches zweistufiges  Verfahren sowohl für die Projektverfasser als auch die Auslober effizient und vorteilhaft (vgl. Interview mit Christian Menn).

Bogen als Kernstück der Korrektion

Die Randbedingungen des Bauprojekts waren anspruchsvoll: Steile Talflanken und die anstehende Geologie bargen baugrundtechnische Risiken. Die Brücke musste der vorgegebenen, gekrümmten Linienführung der zukünftigen Strasse folgen, gleichzeitig war ein Lawinenzug in der Val Mulinaun zu berücksichtigen. Ausserdem stellte die landschaftlich exponierte Lage etwa 60 m über dem Bach trotz verdeckenden Waldhängen hohe Ansprüche an das Erscheinungsbild. Von drei vorgeschlagenen Bogenbrückenkonstruktionen kam nur der Entwurf von Schnetzer Puskas Ingenieure in die engere Auswahl und konnte letztlich den Wettbewerb für sich entscheiden.

Obwohl die gekrümmte Linienführung der Strasse für eine Bogenkonstruktion nicht optimal war, wählte der Projektverfasser Heinrich Schnetzer dieses Tragsystem aufgrund statischer, herstellungstechnischer und ästhetischer Gesichtspunkte. Ein Bogen füge sich optimal in die Umgebung ein und lasse sich an dieser Stelle mit dieser Spannweite in effizienter Weise umsetzen – so Schnetzer. Der Entwurf basiere auf statischen und kontextuellen Überlegungen zum Typus Bogen und leite sich grundsätzlich von der Strassengeometrie ab. Eine herkömmliche Bauweise mit teuren Lehrgerüsten habe er aber im Wettbewerbsentwurf mit modernen Herstellungsverfahren weiterentwickelt, wodurch der Bogen als statisches System wirtschaftlich noch interessanter würde (vgl. «Ursprüngliches Bauverfahren», Kasten unten).

Die ästhetische Bogenkonstruktion mit ihrem schlanken, sichelförmigen Bogen, der den Lawinenzug respektvoll überbrückt, dem ruhigen Rhythmus der Aufständerung und der bedachten Einbindung in die Umgebung überzeugte auch die Jury.

Inspiriert von Robert Maillart und Christian Menn

Die knapp 210 m lange Stahlbetonkonstruktion führt teilweise als Hangbrücke bis zu den Widerlagern. Die Spannweite des Bogens beträgt 97.8 m, der Stich 16.8 m, was ein statisch günstiges Verhältnis von 5.8 nach sich zieht. Die monolithische Konstruktion ist lediglich an den Widerlagern verschieblich gelagert. Der Bewegungsmittelpunkt befindet sich im Bogenscheitel, an dem Bogen und Fahrbahn miteinander verbunden sind.

Die Brückenansicht erinnert zwar an einen versteiften Stabbogen, wie ihn Robert Maillart in den 1930er-Jahren entwickelte, das statische System jedoch ist ein anderes: Bei der Punt Mulinaun ist der Bogen ausgesteift und der Fahrbahnträger vorgespannt. Eine solche Kombination setzte bereits Christian Menn bei Bogenbrücken um. Die einzelnen Tragelemente werden  zu einem ganzheitlichen Tragkonzept zusammengefügt. Im Grundriss ist die Bogenbreite variabel.

Der kurvenaussenseitige Bogenrand gegen das Vorderrheintal hin ist gerade, der kurveninnenseitige ist gekrümmt ausgebildet. Der Bogen folgt im Grundriss also der vorgegebenen horizontalen Linienführung der Strasse und ist kein ebenes Tragwerk. Dies widerspricht grundsätzlich dem statisch idealen Konzept, wonach ein Bogen sich nur in der vertikalen Ebene entwickeln sollte. Die Krümmung des inneren Bogenrands führt zu einer im Grundriss gekrümmten Bogenachse.

Die Bogennormalkräfte verursachen deshalb horizontale Umlenkkräfte. Diese kompensieren die aus der gekrümmten Strassenführung entstehenden Torsions­kräfte zumindest teilweise. Um die verbleibenden Torsionskräfte aufnehmen zu können, ist der Bogen gegen die Kämpferfundamente hin relativ breit und mit stabi­lisierenden Rippen versehen.

Um die Wölbung des Bogens insgesamt zu minimieren, tarierten die Ingenieure die Bogenachse an der Strassenlinie aus – eine geometrisch diffizile Parallelverschiebung, da sich die Strassenlinie im Brückenperimeter aus einer Geraden, einer Klothoide und einem Radius zusammensetzt. Die Bogenachse positionierten die Ingenieure so, dass die positive Exzentrizität im Scheitel (Stütze 8) gleich gross wird wie die negativen Exzentrizitäten bei den ersten Bogenstützen (Stützen 6 und 10). Dadurch glichen sie die Exzentrizitäten zwischen den Bogenstützen aus und konnten die Torsion des Bogens trotz seiner räumlichen Geometrie begrenzen.

Schnittkräfte bestimmen die Form

In der Ansicht verläuft die 35 cm starke Bogenplatte polygonal entlang der Stützlinie (Spitzbogen mit höchstem Polygonpunkt im Scheitel). Die den Bogen stabilisierenden 40 cm breiten Rippen variieren in ihrer Höhe von 1.25 m im Viertelspunkt bis zu 1.65 m am Scheitel. Diese sichelförmige U-Form des Bogens leitet sich von der statischen Grenzwertbetrachtung der Momentenbeanspruchung ab. Wie schon bei Maillarts Brücken bestimmt die Schnittkraftlinie die Form des Haupttragelements.

Der vorgespannte, 1.20 m hohe Fahrbahnträger ist als Plattenbalken (d = 32 cm, verjüngend auf 26 cm am Kordon) mit zwei Längsträgern ausgestaltet, zwischen denen Werkleitungen nicht direkt sichtbar verlaufen. Die Breite der Längsträger nimmt von 1.20 m im Feld auf 1.82 m an den Auflagern zu. Der Fahrbahnträger ist auf Stützenscheiben mit einem Abstand von 16.30 m respektive 15 m an den Endfeldern aufgeständert. Über dem Bogen sind die Scheiben im Grundriss rechtwinklig zur Bogenachse ausgerichtet, in den Lehnenbrücken radial zur Fahrbahnachse.

Da der Bogen zum Scheitel hin schmaler wird, der Überbau gegenüber dem Bogen (im Grundriss) stärker gekrümmt ist und das Quergefälle von 7 % (Rabius) auf 3 % (Sumvitg) abnimmt, verändert sich der jeweilige Anzug der Stützen. Jede Stütze hat im Querprofil der Brücke gesehen eine eigene Ansicht. Die Kämpferstützen – sie stehen nicht auf dem Bogen selbst, sondern auf dem Kämpferfundament am Bogenansatz – sind 55 cm dick, die übrigen 40 und 30 cm. Alle Stützen sind grundsätzlich mit einem 10 cm weiten Versatz nach innen auf dem Bogen angeordnet, am Anschluss an den Fahrbahnträger beträgt dieser 20 cm gegenüber den Trägerkanten. Dies ergibt optisch eine klare Abgrenzung zwischen den Ständern und den längs laufenden Elementen wie Bogen und Fahrbahn.

Die Kämpfer stehen ausserhalb der Lawinenzone der Val Mulinaun und ruhen auf Schwerge­wichtsfundamenten. Die übrigen Tragelemente konnten auf Flachfundationen abgestellt werden, da die Lasten bei den Vorlandstützen und den Widerlagern dank den kurzen Spannweiten bescheiden sind. Die Widerlager sind konventionell ausgestaltet und weisen einen Kontrollgang auf. Der Fahrbahnträger ruht hier auf Topflagern und ist mit Fahrbahnübergängen dilatiert.

Brücke als Kunst des Ingenieurs

Die neue Überquerung widerspiegelt die statisch und gestalterisch sachverständige Leistung der Ingenieure. Schliesslich ist die statische Effizienz, die für eine qualitativ gut gestaltete Brücke unabdingbar ist, ein gewichtiges Kriterium des Entwurfs. Anders als rein auf gestalterische und geometrische Argumente ausgelegte Tragwerke entsprechen die Tragelemente hier der effektiven Beanspruchung. Mit dem dadurch gewon­nenen effizienten Tragverhalten erhält die Brücke  ihre Wirtschaftlichkeit und fügt sich als exponiertes Bauwerk leicht und schwungvoll in die Landschaft der Surselva ein.

Länge: 210 m
Spannweite: 98 m
Höhe: 50 m (über Bach)
Baujahre: 2014–2017
Kosten: 7.5 Mio. Fr.

Am Bau Beteiligte


Bauherrschaft
Tiefbauamt Graubünden


Projektverfasser
Schnetzer Puskas Ingenieure AG, Basel


Gestalterische Mitarbeit
Aita Flury Architektin


Bauunternehmung
ARGE Punt Val Mulinaun: Strabag, J. Erni, Caprez Bau


Lehrgerüst
Coray Construction, Locarno


Abdichtungen/Belagsarbeiten
Aeschlimann, Zofingen


Ursprüngliches Bauverfahren

Innerhalb der Bogenkonstruktion war bei der Wettbewerbseingabe ein im Endzustand einbetoniertes Fachwerk aus Stahlrohren angedacht (gem. der Melan-Bauweise, benannt nach dem tschechischen Ingenieur Joseph Melan [1853–1941]). Dieses hätte im Bauzustand als Gerüst sowie als Führung für die Schalwagen des Bogens dienen und im Endzustand als Bewehrung wirken sollen. Der Überbau wäre dann konventionell auf Lehrgerüsten von beiden Enden gleichzeitig erstellt worden. Dieses Bauverfahren ist ein Lösungsansatz, um Bogenkonstruktionen heute wirtschaftlich interessant zu bauen.

Weil die vorgeschlagene Brückenkonstruktion aber auch konventionell wirtschaftlich herstellbar war, wich man in der Ausführung von diesem Baukonzept ab und gab der Unternehmerlösung mit relativ einfachen Gerüsttürmen und einem verbindenden Fachwerkträger den Vorrang. (Clementine Hegner-van Rooden)

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