Wohnen als Kultur
Die Bauten der Architektin Lux Guyer entstanden in einer Zeit, in der die klassische Moderne die Frage des Wohnens dominierte. Doch Guyers Verständnis von Wohnen wies darüber hinaus. An der Zollikerstrasse in Zürich haben Marlène Witry und Theres Hollenstein eines ihrer Häuser renoviert und dabei mit bewussten Eingriffen den Charakter der guyerschen Grundrisse gleichsam unterstrichen.
Obschon fast hundert Jahre alt, wirken die Wohnungen von Lux Guyer sehr modern. Ihr Konzept, die Räume als gleichwertige Einheiten anzuordnen, erlaubt viel, verlangt von den Bewohnerinnen und Bewohnern aber auch, sich mit dem Grundriss und vor allem den eigenen Wohnvorstellungen auseinanderzusetzen. Oder, wie es Lux Guyer ausdrückte: Man darf den Menschen auch etwas zumuten.1
Dieser Überzeugung blieb sie auch bei der Überbauung an der Zollikerstrasse an der südöstlichen Zürcher Stadtgrenze treu. Guyer baute hier von 1929 bis 1931 fünf Wohnhäuser als Teil des grössten Gesamtprojekts in ihrem Œuvre, bei dem sie gleichzeitig als Architektin und Unternehmerin auftrat. Ursprünglich sollten auf dem nach seiner Lage am Stadtrand «Südend» benannten Areal zehn Wohnhäuser entstehen. Realisiert wurden schliesslich die Typen F bis K.
Jeweils rechts und links von einem Mittelbau, der quer zum Hang liegt, stehen zwei Wohnbauten. Ihre Grundrisse folgen dem Hang und variieren je nach Lage im Gebäude. Lux Guyer hat nach Fertigstellung selbst in einer der Wohnungen gewohnt und daraufhin in zwei Etappen, 1931 und 1934, grössere Umbauten vorgenommen, insbesondere die Vergrösserung der Lukarnen und das Versetzen von Fenstern. Kubaturen und Fassaden entsprechen heute im Wesentlichen diesem damaligen Erscheinungsbild, im Innern waren die Eingriffe weitreichender.
Das von den Zürcher Architektinnen Marlène Witry und Theres Hollenstein 2020 umgebaute Haus F schliesst die Anlage nach Nordwesten ab. Gegenüber den vier anderen Bauten der Siedlung, bei denen kleinere Anpassungen ausgeführt wurden, ist sowohl sein äusserer Zustand als auch die ursprüngliche Grundrissteilung erhalten. Die ganze Siedlung befindet sich im Inventar der kunst- und kulturhistorischen Schutzobjekte von kommunaler Bedeutung.
Varianten in Höhe und Breite
Das Haus verfügt über zwei Wohngeschosse, ein mit Gauben ausgebautes Dachgeschoss, in dem sich ebenfalls zwei Wohnungen befinden, und ein sich von der strassenseitigen Schmalseite in den Hang schiebendes Untergeschoss. Der Zugang erfolgt, statt wie einst auf der Südwestseite über das Untergeschoss, neu von Nordwesten über die Längsseite.
In den beiden Vollgeschossen befindet sich links vom Treppenhaus eine Dreizimmer- und rechts davon eine Vierzimmerwohnung; der gegenüber dem Treppenhaus liegende Raum könnte als Schaltzimmer beiden Wohnungen zugeschlagen werden. Die Vierzimmerwohnungen verfügen über das zwischen zwei Zimmern eingebettete, von Lux Guyer entwickelte Bad, das mittels Flügeltüren zum eigentlichen Badezimmer geschlossen werden kann. Dieses für sie charakteristische Element stellte sie 1926 im Rahmen der Ausstellung «Das neue Heim» im Kunstgewerbemuseum Zürich erstmals einer breiten Öffentlichkeit vor.2
Architektur des Gebrauchs
Die relativ kleinen Räume der Wohnungen sind unmittelbar miteinander verbunden, was den Grundrissen eine gewisse Grosszügigkeit verleiht. Dazu tragen auch die Fensteröffnungen bei, die in jeder Wohnung gezielt platziert sind. Im Erdgeschoss öffnen Flügeltüren die Wohnräume zum Garten. Dort, wo sich das Wohngeschoss aufgrund der Hanglage zum Hochparterre wandelt und keine Austrittsmöglichkeit besteht, erlaubt das für die Architektin typische Element von zwei übereck angeordneten Fenstern die Verortung des Raums auf dem Grundstück. Durch die so entstehende Verknüpfung von Wohn- und Aussenraum entsteht der Eindruck von Offenheit und Weite.
Während die Vierzimmerwohnung über eine zentrale Halle verfügt, sind bei den Dreizimmerwohnungen die zwei zur Strasse liegenden Wohnräume über eine Doppelflügeltür verbunden. Küche und Bad bzw. WC (in den Vierzimmerwohnungen) lagen ursprünglich davon abgetrennt und waren dem Eingangsbereich zugeordnet. In der Vierzimmerwohnung wurde die Küche nur über den Flur erschlossen und besass keine Verbindung zum zentralen Wohnraum.
Die Materialien und das Zusammenspiel von Material und Farbe zeigten die für Guyers Wohnbauten typische Verknüpfung von Kunsthandwerk und Gewerbe. Die gestreiften Holzdielen wiesen die Wohnräume als solche aus, während die sechseckigen Bodenfliesen in Eingangsbereich, Bad und Küchen dem dienenden Charakter dieser Räume entsprachen.
Farbe widerspiegelt Lage
Mit der im Dezember 2020 abgeschlossenen grundlegenden Renovation des Mehrfamilienhauses haben Marlène Witry und Theres Hollenstein die Wohnungen in ihrem Charakter erhalten und mit präzisen Eingriffen modernisiert. Die Architektinnen, die für die Renovation von der Bauherrschaft direkt beauftragt wurden, haben die Eigenheiten der einzelnen Grundrisse studiert und in ihren Massnahmen interpretierend übersetzt.
Die Wohnungen waren im Lauf der Jahre mehrfach gestrichen, der ehemalige Dielenboden mehrfach überklebt oder gar ausgewechselt worden. Mit dem Rückbau auf den Rohbauzustand wurde es möglich, den Ausbau im Sinn Lux Guyers neu zu denken. Gleichzeitig erlaubte der Umbau, die komplette Gebäudetechnik auszutauschen und zu modernisieren.
Am augenfälligsten wird dies in den beiden Vierzimmerwohnungen: Die Küche ist neu zum angrenzenden grössten Wohnraum geöffnet. Dieser Eingriff entspricht der Logik des ursprünglichen Grundrisses, der durch die unmittelbare Verbindung der Wohnräume die Anlage eines Flurs überflüssig macht. Das Entrée bleibt als solches erhalten. Das ehemalige WC wurde, ergänzend zum bestehenden Lux-Guyer-Bad, mit Dusche ausgebaut. Durch die Verbindung von Küche und Wohnen erfährt die Wohnung eine zeitgemässe Anpassung, ohne den Charme der eigenwilligen Grundrissdisposition zu verlieren.
Besonderen Wert legten die Architektinnen auf die Wahl der Ausbaumaterialien, ganz im Sinn der Erbauerin. Die für Lux Guyer charakteristische Farbigkeit der Räume findet in der Wahl von Bodenbelägen, Fliesen und Küchenoberflächen ihre Entsprechung. Für das Haus wurde eine Palette von sechs Farben definiert, die je nach Wohnung variieren.
Dort wo möglich wurde der alte Dielenboden der Wohnräume wiederhergestellt und ergänzt mit einem Linoleumbelag in dunklem Grün. Der als Halle angelegte Eingangsbereich war im Original mit sechseckigen roten Fliesen ausgelegt, die erhalten und um fehlende Fliesen ergänzt wurden. Die Farbigkeit wird auch durch die Lage im Grundriss bestimmt. So sind in den seeseitigen Wohnungen die Fronten der Küchen blau und die Böden hellgrün, während in den hangseitigen Wohnungen den blauen Fronten ein roter Bodenbelag zur Seite gestellt ist.
Spielraum für Kenner
Die renovierten Wohnräume erzählen viel von ihrer Erbauerin. Kein Grundriss gleicht dem anderen, und dennoch verbinden sie einige Aspekte. Die einzelnen Räume einer Wohnung erscheinen auf interessante Art gleichwertig, obwohl sie über unterschiedliche Grössen und einen jeweils eigenen Aussenbezug verfügen.
Durch die Lage im Grundriss entstehen Raumkonstellationen, die – mit Ausnahme der am Treppenhaus gelegenen Schaltzimmer – jede Nutzung in jedem Raum denkbar werden lassen. Wenn es auch freilich naheliegend ist, das Schlafzimmer zum Lux-Guyer-Bad anzuordnen, ist dies nicht zwingend – wo also gegessen, geschlafen, gewohnt und gearbeitet wird, hängt ganz von den Vorlieben der Bewohnerinnen und Bewohner ab.
Es ist die grosse Qualität dieser Renovation und die Begabung der Architektinnen, die Eigenart des guyerschen Grundrisses zu verstehen und mit diesem Leitgedanken in der Modernisierung zu arbeiten. Aus dem Verstehen des Vorhandenen und der intensiven Beschäftigung mit dem Wohnverständnis Lux Guyers haben Marlène Witry und Theres Hollenstein Wohnungen geschaffen, denen ihr Charakter gut zu Gesicht steht.
Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 21/2021: «Spurensuche: frühe Architektinnen und ihre Bauten heute».
Bauherrschaft: privat
Architektur: Schürmann + Witry Architekten, Zürich; Theres Hollenstein Architektur, Zürich
Tragkonstruktion; HLKSE-Planung: EBP Schweiz, Zürich
Bauphysik: Raumanzug, Zürich
Planung: Oktober 2018 bis März 2020
Bau: März 2020 bis Dezember 2020
Anmerkungen
1 Peter Meyer, «Lux Guyer», in: Schweizerische Bauzeitung 73 (1955), Nr. 46, S. 724.
2 Peter Meyer, «Das neue Heim», in: Schweizerische Bauzeitung 88 (1926), Nr. 23, S. 311 ff. Das Lux-Guyer-Bad taucht erstmals 1926 in Plänen für das (nicht realisierte) Atelier Paresce in Paris auf.