Li­cht ins Uhr­werk

Die neue Manufaktur von Audemars Piguet in Le Locle zelebriert das Uhrmacherhandwerk. Im Gegensatz zur traditionellen Orientierung gen Norden aber öffnet sie sich auch dem direkten Sonnenlicht. Zu verdanken ist das wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Wirkung der Sonne auf Rhythmus und Energie des Menschen.

Data di pubblicazione
18-11-2021

Die neue Manufaktur von Audemars Piguet ist eine ebenso eindrückliche Maschine wie die dort hergestellten Uhren. Bewegt wird sie von der Sonne, der ­Topografie des Jura und von Sehzellen. Selten präsentiert und versammelt Architektur so klar das gesamte Räderwerk eines komplexen Herstellungsprozesses – wie hier desjenigen von Luxusuhren. Die Architektur wird dabei als Maschine begriffen, die mit einer einzigen Geste nicht nur Raum und Technik organisiert, sondern auch die Geschichte der Uhr erzählt und sie in ein Produk­tionsnetzwerk vom Kunsthandwerk der Uhrenmacher bis hin zum weltweiten Handel einordnet.

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Audemars Piguet zählt heute weltweit 2000 Mitarbeitende, die zentralen Produktionsstätten befinden sich in Le Brassus (wo 1907 die erste Manufaktur entstand), Le Locle und Meyrin. Der Hersteller ist eines der wenigen Unternehmen, die die meisten Produktionsschritte der Uhrmacherei noch an einem Ort versammeln können. In Le Brassus hat Audemars Piguet eine eher funktionale Manufaktur erstellt (Dolci-Tekhne, 2006–2009), deren Produktionseinheiten nach Norden ausgerichtet sind. Darüber hinaus ist hier eine kleine Ikone entstanden, die symbolisch für die Aufwertung des Produkts steht: das als Doppelspirale konzipierte «Musée-Atelier» (BIG, 2020). Die Manufaktur in Le Locle erfüllt diese beiden Anforderungen zugleich. Ikonisch ist hier die Umgebung, die – im wahrsten Sinn des Wortes – die Herstellung ins rechte Licht rückt.

Die Manufaktur als «Stadtlandschaft Uhrenindustrie»

«Manufaktur» bezeichnet einen Ort, an dem das Handwerk die Organisation bestimmt und nicht umgekehrt. Bei ihrem Bau stellt sich unvermeidbar das Problem, die für den Uhrenbau notwendigen Lichtbedingungen mit einer Gruppe von Handwerkern in Einklang zu bringen, deren Empfindungen individuell sind. Eine weitere Herausforderung ist das Vermögen der Architektur, eine Erzählung über die prestigeträchtigen Uhren zu formulieren.

Das Projekt von Kuník de Moser suchte im Unterschied zu traditionellen Manufakturen nicht allein das nördliche Licht. Bereits bei den ersten Skizzen überlegten die Architekten, wie das Licht das körperliche Wohlbefinden der Nutzer ­beeinflusst. Das Spezialunternehmen Oculight dynamics hat die Entwerfer dabei beraten, verschiedene Lichtatmosphären zu definieren, die den gesamten Tageszyklus betreffen. Gemäss der Co-Gründerin Mari­lyne Andersen hat das natürliche Licht Auswirkungen auf Wohlbefinden, Gefühle und somit auch auf die ­Gesundheit der Menschen.

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Sie vertritt die Ansicht, die oft gemeinhin als optimal betrachteten Arbeitsbedingungen (21 °C, 500 Lux, ein stabiler CO2-Gehalt der Luft) funktionieren in einer auf Produktivität ausgerichteten Manufaktur nicht. Tatsächlich werden Wohlbefinden, Schlaf, Verdauung, aber auch die Leistungsfähigkeit – und somit auch die Konzentration – durch den zirkadianen Rhythmus gesteuert. Die innere Uhr gleicht sich dem Tag-Nacht-Rhythmus durch Fotorezeptor-Zellen an, die sich in der Netzhaut befinden und auf blaues Licht reagieren. Um auf die Emotionen einzuwirken, müssen also abwechslungsreiche Umgebungen geschaffen werden, die den Kontakt mit der Aussenwelt gewährleisten.

In diesen Zyklus eingefügt, funktioniert die Manufaktur wie eine Uhr. Ihre Atmosphäre changiert mit den Tätigkeiten zu verschiedenen Tageszeiten. Die bereits früh am Morgen besetzten Werkstätten sind nach Norden ausgerichtet; durch die Reflexion der Decken und der durchweg weissen Einbauten werden sie in indirektes Licht getaucht. Die Lichtzufuhr wird durch punktuelle Lichtöffnungen verstärkt, die die Uhr­macher nutzen, um Mängel zu erkennen. Die Fenster sind mit elektrochromem Glas ausgestattet. Dessen aktive Beschichtung erlaubt es, durch elektrische Spannung den Lichteinfall graduell zu verringern. So können kleine Teams die natürliche Lichtzufuhr ihren individuellen Bedürfnissen anpassen. In den ­Räumen für Forschung und Entwicklung suchte man hingegen direktes und sich veränderndes Licht, das bis in die Abendstunden stimuliert.

Architektur als Erzählung

Eine der grössten Herausforderungen des Entwurfs war es, den Käufern Einlass in das Produktionszentrum zu gewähren und sie in diese Umgebung eintauchen zu lassen. Der Gebäudegrundriss versammelt dazu verschiedene Produktionseinheiten um den zentralen Platz – die Agora – herum, der einen panoptischen Blick auf alle Herstellungsetappen bietet. 

Uhren sind ein Paradox: Sie haben heute zwar praktisch keine Funktion mehr, doch ihr Prestige beruht auf der extremen Raffinesse ihrer Funktion. Die ganze ­Manufaktur entspringt diesem Widerspruch: Obwohl funktional, hat sie nichts mit Funktionalismus zu tun. Es handelt sich ganz im Gegenteil um eine erzählerische, didaktische Architektur1, deren Anspruch ­darin besteht, die Erzählung anhand ihrer Funktion zu schreiben: Bewegungen, Vorgehensweisen und Savoir-faire der Uhrmacher, deren Arbeit hier ans Licht gelangt.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 37/2021 «Energie aus Tageslicht».

Uhrenmanufaktur in Le Locle NE


Bauherrschaft
Audemars Piguet, Le Brassus

Architektur
Kunik de Morsier architectes, Lausanne

Bauleitung
Pierre Liechti architectes,
Biel/Bienne, und Rmoved, Valangin

Tragwerk
GVH, Saint-Blaise

Landschaftsarchitektur
Forster-Paysage, Prilly

Fassaden
BCS, Neuchâtel

HLKS
Amstein + Walthert, Zürich

Bauphysik
Planair

Natürliches Licht und Physiologie
Oculight, Lausanne

Künstliches Licht
DCube, Confignon

Brandschutz
Ignis Salutem, Saint-Légier

Geotechnik
De Cérenville, Neuchâtel

Akustik und Bodenkunde
Prona

Mobilität
Citec, Genf

Vermessungsingenieur
MAP, Auvernier und La Chaux-de-Fonds 

Workspace
Studio Banana, Lausanne

Dynamische Studien
Résonance, Carouge

Anmerkungen

1 Dieser Mehrwert steht wahrscheinlich in Verbindung mit einer Art von didaktischer Transparenz des technischen Objekts. Für Gilbert Simondon ist es die Unkenntnis ihrer «Existenzweise», die für eine Art Entfremdung der Menschen gegenüber ihrer technischen Umwelt sorgt. Die Manufaktur in Le Locle gibt eine Antwort auf die gleiche didaktische Herausforderung. Gilbert Simondon, Du mode d’existence des objets techniques, 1958.

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