Re­pa­rie­ren statt kon­su­mie­ren

Ein Interview mit einem der grössten Experten in Sachen Kreislaufwirtschaft hält oftmals Überraschungen bereit – dieses Mal bereits bei der Präsentation der Fragen, über die wir hätten sprechen wollen. Walter R. Stahel findet nämlich: So wichtig es ist, dass sich die Architekturschaffenden mit dem Thema Wiederverwendung befassen – noch entscheidender ist es, die Zielsetzungen der Kreislaufwirtschaft in die Politik und die Verantwortung der Gesamtgesellschaft einzuordnen.

Data di pubblicazione
01-03-2022
Yony Santos
Head of education espazium.ch | Architekt | Redaktor

Gleich zu Beginn schlägt uns der Leiter des Genfer Instituts für Produktdauer-Forschung vor, alle unsere Fragen und Hypothesen über Bord zu werfen und die Diskussion über «Re-use» aus dem Blickwinkel seines ganz eigenen Verständnisses der Problematik zu führen. Die Art und Weise, über diese Themen zu sprechen, und seine Argumentationskette sind das Ergebnis von 45 Jahren Forschung, die er dem Kampf gegen die Grundsätze der sogenannten «linearen» oder Wegwerf-Wirtschaft gewidmet hat. Deshalb entschieden wir uns, einen Auszug des Zoom-Interviews im möglichst exakten Wortlaut wiederzugeben.

Politik

«Die erste Frage, die wir uns stellen müssen, wenn wir uns dem Thema Wiederverwendung nähern wollen, ist die nach den politischen Zielen. Streben wir eine Null-Abfall-, eine Null-CO2-Emissionen- oder eine Null-Energie-Gesellschaft an? Sind die Ziele einmal festgelegt, können wir nach Strategien suchen, um sie zu erreichen. Wir müssen uns aber bewusst sein, dass jede Stossrichtung verschiedene, manchmal auch widersprüchliche Lösungen hervorbringt. Auf die Welt des Bauens angewendet ist die soziopolitische Frage, die wir uns stellen müssen, genauso komplex: Was erwarten wir von der Bauwirtschaft in Anbetracht dessen, dass Architektinnen und Architekten in der Kreislaufwirtschaft nur Nebenakteure, ‹fachkundige Berater› sind? Denn die Entscheidungen trifft der Eigentümer. Fachkundig heisst hier vor allem: Warum ist es besser, bestehende Gebäude umzubauen und zu ertüchtigen, als neue zu bauen?»

Abfall, Wirtschaft und Emissionen

«In der Schweiz machen Neubauten statistisch gesehen nur 2 % der jährlichen Bautätigkeit aus. Die restlichen 98 % sind Eingriffe in den Bestand. Vor diesem Hintergrund wird schnell klar, wie unglaublich wichtig die Wiederverwendung ist. Dies auch deshalb, weil wir die schiere Menge an Abfällen aus Abbrucharbeiten nicht mehr bewältigen können. Die Fragen, die sich Architekturschaffende stellen müssen, sind nicht mehr nur ästhetischer oder entwerferischer, sondern ganz einfach praktischer Natur: Was machen wir mit dem vorhandenen gebauten Kapital im Wissen, dass wir es nicht mehr ‹loswerden›?

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Dann folgt die wirtschaftliche Frage: Reichen unsere finanziellen Ressourcen aus, um weiterhin neue Gebäude zu bauen, obwohl die Rohstoffpreise ins Unermessliche steigen (2021 teilweise um 500 %)? In Anbetracht dieser Umstände müssen wir damit rechnen, dass viele Generalunternehmen in den nächsten Jahren Konkurs machen werden. Da sie oftmals vertraglich an einen Festpreis gebunden sind, wird ihr Gewinn nun deutlich kleiner ausfallen.

In einem Standardgebäude steckt 75 % der grauen Energie in der Tragstruktur und im Fundament. Bei einer Windenergieanlage sind es sogar 90 %, nicht wiederverwertbare Abfälle wie die Carbonfaser-Rotorblätter nicht miteingerechnet. Wenn wir also nur schon das ‹Skelett› der Gebäude erhalten, kann ein Grossteil der grauen Energie und des zum (Neu-)Bau benötigten Wassers eingespart werden. Vor allem aber reduzieren wir die Produktion von neuen CO2-Emissionen beträchtlich.»

Materialien

«Spinnt man diese Überlegungen weiter und stellt sich die Frage, welche Materialien verwendet werden sollen, um das Ziel Null-CO2-Emissionen zu erreichen und eine rein zirkuläre Produktionskette aufzubauen – Produktion, Nutzen, Rückgewinnung von Komponenten und Molekülen zur Wiederverwendung – ist wider Erwarten Stahl das interessanteste Material. Natürlich nicht die Vielzahl von Stahllegierungen, die wir heute verwenden, sondern ein purer Stahl, der aus nur einer Legierung besteht und dessen Produktion keine CO2-Emissionen verursacht. Es würde sich um ein Material handeln, das sowohl bei der Herstellung als auch bei der Dekonstruktion zu 100 % wiederverwendbar ist. Leider verfügen wir noch nicht über die Technik, um dieses Material industriell herzustellen, und das, obwohl dazu im Bereich der Metall- und der Stahlindustrie mehrere Studien laufen, die die Bauindustrie völlig umkrempeln werden. Das Ziel ist es, einen ‹Null-CO2-Emissionen-Stahl› herzustellen und den Stahl, der zurückkommt, wiederzuverwenden, indem Legierungen getrennt und fossile Brennstoffe durch grünen Wasserstoff ersetzt werden.»

Wachstum und Arbeitskraft

«Keine Regierung wird es wagen, das Negativwachstum zur Diskussion zu bringen und so das Bruttosozialprodukt zu gefährden – mit all den Konsequenzen, die das nach sich zieht. Dabei stimmt es nicht ganz, dass Wachstum und Wiederverwendung nicht kompatibel sind. Man müsste nur den Reichtum eines Landes anders messen, nämlich anhand der Qualität und Quantität der bestehenden Natur-, Kultur-, Human- und industriell gefertigten Kapitalien (assets; Infrastruktur, Bauten, Güter). Pilotstudien der Weltbank haben gezeigt, dass Länder, die auf einer Kreislaufwirtschaft basieren, ihren Reichtum und Wohlstand steigern können, auch wenn sie kein Produktionswachstum verzeichnen. Dazu müssen sie nur ihren eigenen Ressourcen Sorge tragen und ihre Immobilien instand halten. Wir müssen den Begriff ‹konsumieren› durch den Begriff ‹nutzen› ersetzen und lernen, alle verfügbaren Ressourcen wiederzuverwenden – kulturelle, menschliche, natürliche und gebaute –, um so den Reichtum und nicht die Produktion eines Landes zu erhöhen: mehr Nutzen aus weniger Ressourcen während längerer Zeit.

Um Gebiete mit hoher Abwanderung zu reindustrialisieren und mehr von regionalen Ressourcen und Humankapital profitieren zu können, gibt es eine Lösung: Wir müssen aufhören, die Arbeitskraft zu besteuern, denn so können wir die Produktionskosten halbieren. Dabei handelt es sich um eine ‹disruptive›, radikale Lösung, denn die Besteuerung der Arbeit macht heute 56 % der Staatseinnahmen aus (EU-Mitgliedstaaten). Wir müssen die Sachen besteuern, die wir nicht wollen (Abfall, Emissionen, Konsum usw.), und aufhören, ganz offensichtlich kontraproduktive Strategien anzuwenden. Denn was bringt es, die Qualität des Humankapitals zu verbessern, wenn wir dieses nicht effizient nutzen?»

Territorium

«Für die Kreislaufwirtschaft als Ganzes gesehen ist die Architektur nur eine Verpackung. Viel wichtiger ist es, die Problematik auf territorialer Ebene zu betrachten. Für bestehende Gebäude wie für Städte gilt es vor allem zu lernen, sie wieder- und weiterzuverwenden. Das in der Charta von Athen von Le Corbusier festgehaltene Prinzip der funktionalen Trennung von Wohnen, Arbeiten und Erholung hatte in einer Zeit, in der die Stadt ein toxischer Lebensraum war, durchaus ihre Berechtigung. Heute müssen wir diese Prinzipien überdenken und die Städte attraktiver gestalten, vor allem indem wir Reparatur- und Instandsetzungswerkstätten, wie auch Fabriken, im Stadtgefüge tolerieren. Beispiel Porsche-Werk in Dresden. In den letzten Jahren sind die Industrien viel geräuscharmer und umweltfreundlicher, aber dank innovativen Kleinserien-Fertigungsprozessen wie 3-D-Printern auch flexibler geworden. Die städtischen Zentren müssen reindustrialisiert werden, um der Tendenz entgegenzuwirken, alle Gebrauchtgüter durch neue Importprodukte zu ersetzen, die global transportiert werden. Die Lieferengpässe der letzten Jahre für Komponenten haben uns zudem die Verletzlichkeit und mangelnde Systemeffizienz der globalen Fertigungsketten aufgezeigt.»

Architekturlehre

«Heute verfügen wir deshalb noch nicht über diese Lösungen, weil das universitäre (Silo-)System weiterhin Fachleute ausbildet, die die lineare Wirtschaft und nicht die komplexe Kreislaufwirtschaft aufrechterhalten und stärken. Die Lehrpersonen wurden vor dem Hintergrund einer Wachstums- und Konsumlogik ausgebildet. Wenn auch unbewusst, fördern wir weiterhin die Produktion auf Kosten der Wiederverwendung. Ein praktisches Beispiel hierfür: Wird in den Architekturschulen ein Fach unterrichtet, das ‹Entwurf für Dekonstruktion› heisst? Wie können wir dieser Entwicklung entgegenwirken?»

Die Zukunft der Wiederverwendung

«Die Wiederverwendung ist weder Mythos noch Realität: Sie ist ganz einfach ein unvermeidliches Phänomen, weil die Umwelt uns dazu zwingen wird, etwas zu ändern. Ein Beispiel: Es ist unbegreiflich, dass wir noch immer Fabriken haben, die neue Autos bauen. COVID-19 hat gezeigt, dass der Güterbestand in den meisten Fällen der Nachfrage genügt, aber Fachleute in der ‹Instandhaltung› des Bestands (Stichwort Pflege) fehlen. Wir könnten die ‹alten› Fahrzeuge umbauen und mit der neusten Technologie hochrüsten. Aber lieber bezahlen Politiker den Besitzern eine Abwrackprämie, damit sie ihre alten Autos ‹wegwerfen› und neue kaufen und damit ‹Wachstum schaffen›, als mit dem gleichen Geld Leute auszubilden, damit sie lernen, die bereits gebauten Fahrzeuge effizienter und kostengünstiger zu reparieren und technologisch hochzurüsten. Das gleiche gilt für Infrastrukturen und Gebäude. Ich finde die mangelnde Resilienz unserer sogenannt modernen Gesellschaft, die lieber alles verliert, als auf gewisse ‹Privilegien› wie den letzten Modeschrei zu verzichten, schlichtweg zum Verzweifeln.

Mit Bewegungen wie ‹Extinction Rebellion› werden wir es nicht schaffen, die Wirtschaft radikal zu ändern. Wir müssen neue Strategien und Techniken finden, um das Übel an der Wurzel zu packen. Damit wir das schaffen, brauchen wir Innovation und müssen die dazu erforderlichen Ausbildungsinfrastrukturen und -technologien fördern und unterstützen. Und wir müssen den Leuten zeigen, dass wir alle zur Lösung beitragen können, nämlich indem wir zu unseren Sachen Sorge tragen. Der Globalisierung können wir jedenfalls schon heute abschwören, denn die diente nur dazu, die Produktionskosten drastisch zu senken. Zirkuläre Produktions- und Wiederwendungssysteme sind hingegen lokal oder regional und bestehen aus Dienstleistungen, die primär da erbracht werden müssen wo die Besitzer und ihre Güter sind.

Ich bin auf jeden Fall der festen Überzeugung, dass einer der grossen sozialen Umbrüche des 21. Jahrhunderts darin besteht, dass ‹Konsumenten› zu ‹Nutzern›, ‹Fabrikanten› oder ‹Restauratoren‹ werden müssen. Und ich weiss, es ist möglich: Mein Haus in Genf wurde 1756 gebaut, einer meiner Pkw hat Baujahr 1969 – und beide sind ‹besser als neu›. Die Entscheidungen zur nachhaltigen Verlängerung der Produktdauer habe ich als Eigentümer-Nutzer (und Architekt) getroffen, obwohl ich oft belächelt oder bekämpft wurde. Andere Hausbesitzer aber sind dazu auf die Hilfe von Architekten und, bei Fahrzeugen, von Mechanikern angewiesen.»

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Übersetzung aus dem Französischen: Judith Gerber

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