Neue Frei­heit in der Stadt

Die Umnutzung von Infrastrukturbauten für das Auto birgt enormes Potenzial für neuen öffentlichen Raum in den urbanen Zentren. Eine Reportage aus Antwerpen und Utrecht, zwei Pionierstädten einer kleinen Revolution.

Data di pubblicazione
02-03-2023

Für den Aktivisten Manu Claeys ist die Wiederentdeckung der grossen Verkehrsinfrastrukturen im 21. Jahrhundert vergleichbar mit derjenigen der Ufer unserer Flüsse und Seen im 20. Jahrhundert. Orte, die lange als ungesund, verschmutzt und wenig attraktiv galten, sind mittlerweile einzigartige Chancen zur Anlage grüner, freier, offener Räume inmitten des engen Stadtgeflechts. So erzählt es der in Literaturwissenschaften ausgebildete Schriftsteller, für den es zunächst eigentlich keinen Anlass gab, sich für Raumordnung zu interessieren, während wir durch eine Strasse im Antwerpener Quartier Seefhoek radeln.

Es ist ein kalter Dezembertag, und doch ist wie stets alle Welt mit dem Fahrrad unterwegs. Die belgische Stadt hat als eine der ersten in Europa ein Tempolimit von 30 km/h für beinahe alle Strassen im Zentrum eingeführt, und Velofahrer haben hier Vorfahrt.

Dennoch ist Antwerpen eine automobile Drehscheibe, die Brüssel, Den Haag und Dunkerque verbindet. Jeden Tag fahren fast 300 000 Fahrzeuge, darunter 80 000 Lkw, über den halbmondförmigen Ring, der die Stadt umspannt. Die spektakuläre Strasseninfrastruktur kommt in Sicht, während wir den Park Spoor Nord durchqueren und die Nordbrücke hinauffahren. Links der Hafen, rechts der Ring R1: eine achtspurige Autobahn, in den 1960er-Jahren von einem amerikanischen Unternehmen realisiert. Dieser Verkehr hat einen hohen ökologischen und sozialen Preis – ganze Stadtviertel wie etwa Luchtbal wurden durch die Schnellstrasse von der Metropole abgeschnitten.

Antwerpen: Der Kampf für einen Park über der Autobahn

Alles begann 1999. In Antwerpen wurde das Bürgerkollektiv stRaten-generaal gegründet mit dem Ziel, die Stadtentwicklung in eine nachhaltigere Richtung zu lenken. 2005 beschloss die flämische Regierung, den Ring mit einem gewaltigen Viadukt mit insgesamt 18 Fahrbahnen zu vollenden, was die Stadt erheblich beeinträchtigt hätte. «Ein top-down-Ansatz der 1960er-Jahre, der einem neuen Zeitalter so gar nicht entsprach», so Manu Claeys, der sich stRaten-generaal anschloss und so seinen Weg in die Verkehrspolitik fand. In ihrer Forderung wurden die Aktivisten ab 2008 von der Bürgerbewegung Ademloos (Niederländisch für «atemlos») unterstützt, die insbesondere für die Luftqualität kämpfte. Gemeinsam erreichten sie 2009 ein Referendum über das Vorhaben – und gewannen: Das Projekt Viadukt wurde gestoppt.

Demos und Festessen

Aber damit begnügte die Gruppe sich nicht. Mit Beginn der 2010er-Jahre kam die Idee auf, den Ring zu überdeckeln. Eine dritte Bürgerbewegung, ringland, schloss sich an. Das Ziel: Der Ring soll ein Park werden. Mit einigen Regierungsvertretern fuhren die Aktivisten nach Madrid, um das Potenzial eines solchen Projekts aufzuzeigen. Man überdachte die Ringumgebung, die nach amerikanischem Vorbild konzipiert war und bereits viele Grünflächen zwischen den Zubringern aufwies, völlig neu. Die Bewegung wuchs, bis sie einen Grossteil der Bevölkerung umfasste.

Das Beeindruckendste dabei war die Fähigkeit der Aktivisten, den Prozess den Menschen nahezubringen und mit besonderen Ereignissen zu gestalten: Neben Demonstrationszügen und Informationsabenden initiierten sie die Ringpark Festivities: Konzerte, Theateraufführungen, sogar Festessen. Bei manchen Anlässen kamen bis zu 10 000 Menschen an strategischen Punkten des Rings zusammen.

Um ihrem Vorgehen mehr Rückhalt zu garantieren, spielten die Aktivistinnen auch die Klaviatur der Gefühle. Sie veröffentlichten ein Fotoalbum der Orte, die dem Viadukt hätten weichen müssen – wie etwa ein Stück Brachland im Hafen, wo viele Bewohnerinnen und Bewohner einst schwimmen gelernt hatten.

2015 schliesslich wagten es die Aktivisten gemeinsam mit der Bevölkerung, ein zweites Referendum zu organisieren: Das Projekt der Ringabdeckung sollte vor den Staatsrat. Angesichts des Rückhalts in der Bevölkerung – mehr als 70 000 Unterschriften in weniger als einer Woche – knickte die flämische Regierung ein und akzeptierte eine Zusammenarbeit mit den Bürgern. Sie hielt jedoch am Plan fest, den Ring um Antwerpen zu schliessen – ein wichtiges verkehrsstrategisches Projekt. Im Lauf der Diskussionen fand man schliesslich einen Kompromiss – sanfter, mehr dem 21. Jahrhundert entsprechend.

Er folgt einem Vier-Stufen-Plan: der Bau einer lokalen Umgehungsstrasse, die Umleitung des Autoverkehrs durch den Hafen, die Verlagerung auf alternative Verkehrsmittel, und zuletzt die Überbauung der Strasse mit sieben grossen Parks. 2018 wurde das Projekt anlässlich eines Regierungswechsels angenommen und von den Behörden in «The Big Link» umgetauft. Heute sieht man im Osten des Rings die ersten Baumaschinen. Phase eins der Ringabdeckung soll 2031 abgeschlossen sein.

Die Tintenfischmetapher

In Antwerpen wird der Himmel über den Sumpfwiesen heute von den Ringfahrbahnen in luftiger Höhe zerschnitten. Eine Velobrücke führt über den Kanal, in dem sich die riesigen Betonstützen spiegeln, die die Hochstrasse tragen. Was geschieht damit, wenn die Autobahn erst einmal in den Untergrund verlegt ist?

Die Entwurfsteams für die Einhausung des Antwerpener Rings wurden im Projektwettbewerbsverfahren ausgewählt. Um Zeit zu sparen, bilden sie nun einen Pool, auf den während des gesamten Verfahrens zurückgegriffen werden kann. Dazu gehört insbesondere das Studio Paola Viganò. Es arbeitet an der Umwidmung einer grossen, sumpfigen Industriebrache, die an das ehemalige Schlachthofviertel grenzt. Die Verlagerung der Strasseninfrastruktur in den Untergrund beeinflusst nicht nur direkt den öffentlichen Raum. Sie wirkt sich auch auf das umliegende Stadtgefüge aus. Die Strasse wird von einem Ärgernis zur landschaftlichen Chance, setzt aber auch Immobilienspekulation in Gang.

Manu Claeys radelt durch ein weites Niemandsland – auf der einen Seite ein Schienenstrang, auf der anderen die Kläranlage. Sein Pferdeschwanz beult sich unter seiner Mütze, die er fest über die Ohren gezogen hat. Auch wenn er nicht den Eindruck macht: Er ist derzeit der einzige Aktivist im Ausschuss, der das Ganze steuert und diese gewaltige, historische Baustelle verwaltet.

Für die Beschreibung dieses langwierigen Verfahrens nutzt er eine Metapher aus der Unterwasserwelt: «Beim Tintenfisch befinden sich zwei Drittel des Gehirns in den Armen. Bei einem guten Projekt sollten zwei Drittel auch in Händen von Akteurinnen und Akteuren vor Ort sein». Die Abdeckung des Antwerpener Rings ist das Symbol schlechthin für ein bottom-up-Modell à l’européenne, behauptet er. Wir verabreden uns 2031. Ich bin gespannt auf das Ergebnis.

Utrecht: Eine Autobahn ist wieder Kanal

An einem anderen Ort in Europa gelang es nicht nur, eine alte Autobahn in öffentlichen Raum zu verwandeln, sie wurde sogar komplett zurückgebaut. Zwei Stunden Bahnfahrt und einen Anschlusszug später bin ich in Utrecht. Nach 20 Jahren Diskussion ist die Wiederherstellung des Catharijnesingel-Kanals fast abgeschlossen. Das Projekt erhielt kürzlich den European Prize for Urban Public Space des zeitgenössischen Kulturzentrums von Barcelona.

Das historische Zentrum entspricht genau dem Klischee, das man sich unter einer holländischen Stadt vorstellt: schmale Fassaden aus rotem Backstein, die sich im trüben Wasser der Kanäle spiegeln, Ziehbrücken mit schweren bunten Fahrrädern. Verlässt man den Bahnhof, wird man sofort von einem riesigen Einkaufszentrum verschluckt, das den Kanal am Fuss der alten Festungsanlagen umspannt. Hier verlief noch vor wenigen Jahren eine Autobahn. Nun fährt ein Velofahrer am Kanal entlang, eine Hand am Lenker, in der anderen einen Regenschirm über dem blossen Kopf. Utrecht gilt heute als eine der velofreundlichsten Städte Europas und es erscheint unvorstellbar, dass es in den 1970er-Jahren zu einem solchen Planungsirrtum kommen konnte.

Doch damals hoffte man, mit einer Asphaltierung des um die Stadt verlaufenden Kanals den Verkehr zum Bahnhof entlasten zu können. Insgesamt 1.5 km des historischen Kanals wurden zu einer Autostrasse, der Rest zur Sackgasse und in einen Hafen verwandelt.

Ende der 1990er-Jahre änderte sich die Einstellung. Die Stadt initiierte ein erstes Projekt zur Wiederherstellung des Kanals. Ziel ist eine Verdrängung des Autos zugunsten von Fussgängern, Velos und Renaturierung. 2002 stimmten die Utrechter in einem Referendum für einen Masterplan: Wasser soll die Strasse ersetzen. Die Ausschreibung zur zukünftigen Gestalt der Zubringerstrasse erfolgte jedoch erst 2016. Es gewannen OKRA Landschaftsarchitekten, die rund 30 Bürgerinnen und Bürger in den Umwandlungsprozess einbanden.

Ein Landschaftsprojekt

Die öffentlichen Flächen am Kanal von Utrecht haben eine lange Geschichte. Das Projekt von OKRA führt den knapp 5 km langen Zocherpark fort, der im 19. Jahrhundert vom niederländischen Architekten Jan David Zocher gestaltet wurde. Laut Rutger van der Klip, Projektleiter der Restaurierung bei OKRA, möchte der Entwurf einige Elemente aufgreifen, die bereits bei Zocher zu finden waren – wie ein Ensemble alter Mammutbäume, deren Äste sich über das Wasser strecken und die beim Bau der Strasse zum Glück nicht abgeholzt worden waren.

Am anderen Ufer vermittelt eine Reihe Platanen den Eindruck, schon immer dagewesen zu sein. Tatsächlich stammen etwa 15 Bäume vom Grünstreifen der Autobahn. Sie wurden 2019 hierher gepflanzt. Nach ersten Anpassungsproblemen, besonders infolge des sehr trockenen Klimas, verleiht ihnen ein Auslichtungsschnitt Widerstandsfähigkeit, hofft van der Klip. Ein weiteres Element, das von Zocher übernommen wurde, ist der wellenförmige Uferverlauf sowie die enge Beziehung der malerischen Promenade zum Wasser.

Das parallel zur Strasse verlaufende Westufer ist mit einem Deck zum Anlegen von Booten umgeben: ein Überbleibsel aus der Zeit als Hafen. Die verwendeten Materialien – Backstein, stabilisierter Kies – sollen einen Bezug zur Altstadt von Utrecht herstellen. Obwohl die Qualität des Wassers aus dem Rhein recht gut ist, badet die Bevölkerung nicht im Kanal. Stattdessen ist man per Segelboot, Kanu, Paddleboard oder Motorboot unterwegs. Neben der Erholung dient der Kanal heute jedoch vor allem als Wärmeregulator. Der Wasserpegel wird überwacht und konstant gehalten. So findet die Bevölkerung hier selbst an den heissesten Tagen des Jahres ein wenig Schatten und Erfrischung.

Für Rutger van der Klip ist der European Prize for Urban Public Space natürlich eine Bestätigung. Zwar wirkt der Eingriff bei näherer Betrachtung radikal. Man stellt aber rasch fest, dass er auf Stadtebene viel subtiler und bescheidener ist. 1.5 km Umgestaltung, das ist nicht viel. Aber mit seiner Fähigkeit, an Bestehendes anzuknüpfen und einst skizzierte Grünentwürfe fortzusetzen, entfaltet das Projekt seine Wirkung langfristig.

Und in der Schweiz?

Mit dem Wachstum der Städte haben Schnellstrassen an deren Rändern das Stadtgefüge oft entzweit und unwirtliche Gräben geschaffen – für Fussgänger und Velofahrerinnen oft kaum überwindbar, laut, schmutzig. Diese Symbole der Moderne sind ein lästiges Erbe. Sie bieten aber die Möglichkeit, den städtischen Raum neu zu erfinden – mit Freiflächen in der Stadt, die sich für neue Nutzungen wie Klimaregulierung, Lebensmittelproduktion oder Freizeit anbieten.

In der Westschweiz war ein wichtiges Projekt dieser Art die A5 in Neuenburg, die in den 1990er-Jahren schrittweise unter die Erde verlegt wurde. Derzeit laufen weitere Vorhaben, etwa die Abdeckung der Autobahn A12 in Freiburg auf einem Teilstück von 620 m. Ein 2020 im Rahmen des ehrgeizigen Projekts Chamblioux-Bertigny entstandener Studienauftrag schlug vor, diese Intervention zu nutzen, um ein neues Quartier zu schaffen und andere, heute isolierte Stadtteile miteinander zu verbinden. Anders als in Antwerpen sollte die Autobahn N12 jedoch nicht mehrere Meter unter die Erde verlegt, sondern eingehaust werden.

Ein aufsehenerregender Erfolg in jüngerer Zeit war die Aktion des Komitees «Westast: so nicht! » in Biel. Sie erhielt den BSA-Preis 2019 für das städtebauliche Engagement einer Gruppe von Architekten, Ingenieurinnen und Planern, die ehrenamtlich ein Gegenprojekt zur offiziellen Planung der A 5 erarbeiteten. Sie erreichten, dass der Entscheid, eine Autobahn mit zwei Anschlüssen quer durch die Stadt zu bauen, sistiert wurde. 2021 nahm der Bund endgültig vom Projekt Abstand.

Die noch kürzer zurückliegende Wiedereröffnung der Grand-Pont in Lausanne eröffnet neue Möglichkeiten der Verkehrsbetrachtung in der Stadt. Pro Velo, die Association Transport et Environnement Vaud und actif-trafiC starteten eine Petition, die Grand-Pont für den motorisierten Individualverkehr zu sperren und nur für öffentliche Verkehrsmittel, Fussgänger, Velos und Einsatzfahrzeuge freizugeben.

Wie der BSA 2019 hervorhob, dürfen Strassenprojekte nicht als schlichte Verkehrsplanungsprojekte betrachtet werden: An erster Stelle stehe die Stadtgestaltung. In dieser Hinsicht zeugen die Geschichten aus Antwerpen, Utrecht und Biel von der Bedeutung bürgerlichen Engagements und von bottom-up. Die Beispiele belegen, dass solche Prozesse Zeit brauchen. Aber die lohnt sich.

Verlegung der Ringautobahn, Antwerpen

 

Bauherrschaft
Flämische Regierung

 

Landschaftsarchitektur
Organization for Permanent Modernity + BUUR, Brüssel
Latz, Luxemburg
Greisch, Brüssel & Liège
Studio Paola Viganò, Brüssel
MAARCH, Berchem & Mailand
Omgeving, Berchem/Gent/Brüssel
Urbanisten, Rotterdam
Cobe, Paris
51N4E, Brüssel
H+N+S, Amersfoort
Endeavour, Antwerpen

 

Ingenieurwesen
Witteveen+Bos, Deventer
Sweco, international
Tractebel, Brüssel
SBE Engineering, international

 

Bauleitung
Lantis (SA), Antwerpen

 

Fertigstellung/Kosten des ersten Bauabschnitts: 2032/5.5 Milliarden Euro


Länge/ Fläche des ersten Bauabschnitts: 9.3 km/244.8 ha

Wiederherstellung des Catharijnesingel-Kanals, Utrecht

 

Bauherrschaft
Stadt Utrecht

 

Landschaftsarchitektur
OKRA landschapsarchitecten, Utrecht

 

Ingenieurwesen
Witteveen+Bos, Deventer

 

Bauleitung
D van der Steen BV, Utrecht

 

Entwurf: 2017

 

Realisierung: 2019–2020

 

Länge: 1.1 km

 

Fläche: 4.2 ha