Exi­sten­ziel­ler Still­stand

Wiederaufbau im Kontext

Fünf Jahre nach dem Erdbeben hat sich der zuvor schon desolate Zustand Haitis verschlimmert – trotz Milliardenspenden für den Wiederaufbau. Die Lösung müsste aus der Zivilgesellschaft kommen, doch wer unterstützt sie, und wie lang noch? Ein aufrichtiger Befund eines Ortskenners.

Data di pubblicazione
20-05-2015
Revision
07-10-2015

Wiederaufbau? Nach dem Erdbeben von Januar 2010 hatte man sich mehr und Besseres erhofft: eine Neuausrichtung des einstigen Sklavenstaats, der unter Schmerzen, Quarantäne und externen Vormundschaften entstanden war. ­Haitis Geschichte des 20. Jahrhunderts war geprägt durch politische Kuratelen – Interventionen aus dem Ausland und seitens der UNO. Auch die Wirtschaft des Landes erfuhr ständige Struktur­anpassungen, und der Staatshaushalt ist fast vollständig vom Ausland abhängig. Seit 2004 läuft die Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen in Haiti (Minustah) – aber was genau will sie eigentlich stabilisieren  

Am Erdbeben von 2010 allein liegt es nicht, dass 220.000 Menschen unmittelbar ihr Leben verloren – ein stärkeres Beben in Chile forderte im selben Jahr um die 1000 Opfer. Der Wirbelsturm «Jeanne» brachte 2004 in der haitianischen Stadt Gonaïves rund 1000 Menschen den Tod, während in Kuba vier oder fünf Opfer zu beklagen waren. Das soziale Elend vervielfältigt die Folgen der Naturkatastrophe, und umgekehrt verleiht die natürliche Tragödie der gesellschaftlichen erst ihr ganzes Ausmass.

2004 beschrieb eine UNO-Mission Haiti als Land in sehr schlechtem Zustand, das gerade einen Bürgerkrieg hinter sich hatte. Einen Bürgerkrieg im eigentlichen Sinn gab es zwar nicht, dafür aber drei Millionen Arme, die bis heute vom Welternährungs­programm abhängen. Ein Fünftel aller Kinder leidet an Unter­ernährung; ebenso düster sieht es aus bei der Schul­bildung, bei medizinischer Versorgung oder menschenwürdiger Unterkunft. Die grundlegendsten Rechte sind für viele Menschen nicht einforderbar, weil sie nicht auf ein funktionierendes Rechtssystem zurückgreifen können. Fünf Jahre nach der schwersten Katastrophe seit dem 1804 zu Ende gegangenen Unabhängigkeitskrieg ist die Lage des Staats Haiti unverändert desolat. 

Planlose Experten und Klientele

Die Kommission für den Wiederaufbau Haitis bekam 12 Milliarden Dollar Spenden zugesprochen, wobei nur ein Bruchteil ausgezahlt wurde. Etwas mehr als ein Viertel davon wurde in Strassen und Schulen investiert, und ein unbekannter Restbetrag versickert nach und nach – ohne Absprache mit den Nichtregierungsorganisationen (NGOs) oder der Zivilgesellschaft. 

Weder der Präsidentenpalast noch andere öffentliche Gebäude wurden wieder aufgebaut. Es gibt heute ebenso wenig einen Zonenplan, wie es früher ein Katas­ter gab. Seit die unmittelbaren Effekte der Katastrophenhilfe verpufft sind, herrscht in der Hauptstadt Port-au-Prince wie im gesamten Land dasselbe Chaos wie vor dem Desaster. Stadtplanung oder Wohnungsbaupolitik? Fehlanzeige. Das Feld gehört den wenigen Glücklichen, die über Grund oder intakte Gebäude verfügen – und damit frech und (steuer)frei spekulieren. 

Wiederaufbauprojekte von Organisationen wie GRAHN (Groupe de réflexion et d‘action pour une Haiti nouvelle), hinter der die einjährige Arbeit von gut einhundert haitianischstämmigen Forschern aus Quebec steckt, oder der den Globalisierungskritikern nahe­stehenden Bürgerrechtsplattform PAPDA (Plateforme Haitienne de plaidoyer pour un développement alternatif) bleiben weitgehend ohne Wirkung. Noch immer fehlt eine globale Antwort auf Haitis Grundübel. Es scheint, als vertraue die internationale Gemeinschaft nur ihren eigenen Experten und die haitianische Regierung nur ihrer Klientel.

Not um die Unterkunft

Zwar wurden die Aufräumarbeiten abgeschlossen, der Flughafen modernisiert und die Telefonnetze repariert – die Hälfte der Haitianer hat ein Handy; Geschäfte und Luxushotels wurden wieder aufgebaut, und dennoch fehlen nach wie vor öffentliche Plätze und Dienstleistungen. Ein Sechstel der zerstörten Häuser wurden notdürftig zusammengeflickt, jenseits jeglicher öffentlicher Vorschriften und Erdbebennormen. Eine grosse Zahl an Flüchtlingen hat die Slums weiter anschwellen lassen – sofern sie nicht in den Lagern aus Zelt- und Plastikplanen geblieben sind, die zum festen Bestandteil des urbanen Konglomerats der Hauptstadt geworden sind. Dazu kommen die sogenannten T-Shelters – provisorische, 15 m² grosse Holzhäuschen, die den Herausforderungen des tropischen Klimas erfahrungsgemäss nur drei bis fünf Jahre standhalten. 

Einheimische Handwerker und produzierende Unternehmen der Baubranche haben von den Aufbauarbeiten relativ wenig profitiert. Grössere Projekte werden von ausländischen Unternehmen ausgeführt, und die Notunterkünfte entstehen trotz den Bemühungen einiger NGOs nicht immer in Haiti selbst. Tatsächlich stellt das Land nur wenige Baustoffe her, und die lokalen Zwischenhändler wachen argwöhnisch über ihre privaten Importmonopole.

Verpasste Dezentralisierung

Die Verfassung von 1987 hatte eine staatliche Dezentralisierung vorgesehen – in einem Land, das oft nur als «Republik Port-au-Prince» wahrgenommen wird. Diese Dezentralisierung wollen alle, sowohl die lokalen als auch die internationalen Akteure. Dass nach dem Erdbeben die Menschen aus der Hauptstadt abwanderten, hätte die Provinz aufwerten können. Doch stattdessen geschah das Gegenteil: Die Zentralisierung der Hilfe und die fehlenden Strassen bewirkten unter anderem die chronische Rückwanderung nach Port-au-Prince. 

Trotz den 200.000 zerstörten Häusern wächst die Stadt mit knapp einer Million Einwohner ebenso atemberaubend schnell wie vor dem Erdbeben: Jedes Jahr kommen 50.000 Menschen hinzu. Viele der Familien, die 400 Dollar bekamen, damit sie die Zeltlager im Stadtzentrum verliessen, landeten in den Elendsvierteln. Nach dem Abzug der Ersthelfer verschlechterte sich ihre medizinische Versorgung. Durch die eingeschleppte Choleraepidemie, die 10.000 Menschenleben forderte, verschlimmerte sich die Not zusätzlich. Von den Flüchtlingen gelten drei Viertel offiziell als wieder mit Wohnraum versorgt. Das mag zwar stimmen, doch sie sind genauso mittellos wie vorher.

Obwohl Präsident Martelly im Januar 2012 verlauten liess: «Haiti is open for business», lassen ausländische Privatinvestitionen auf sich warten. Die Regierung versucht die Situation zu verbessern, indem sie einen Tourismus à la «DomRep» fördert und Industriegebiete baut. Diese sogenannten «maquiladoras» sind aber in Sachen Sozialvorsorge rechtsfreie Räume. Mit dem Industriepark und der Freihandelzone Caracol sollten in diesem Jahr 30.000 Arbeitsplätze entstehen. Ein Zehntel davon wurde tatsächlich geschaffen – zum horrenden Preis von 136 Mio. Dollar. Die Anlage ist eine Umweltsünde, denn sie zerstört das fragile Ökosystem um die Caracol-­Bucht.

Mit dem Geld, das in dieses Grossvorhaben an der Grenze zur Dominikanischen Republik gesteckt wurde, hätte man zahlreiche andere Projekte in der Landwirtschaft und zugunsten der Infrastruktur im ländlichen Raum finanzieren können. Immerhin leben 50% der Haitianer auf dem Land und erzeugen 25% des Produktionsvolumens. Der informelle Sektor funktioniert also glücklicherweise auch nach dem Erdbeben. Haiti ist reich gesegnet mit Regen und Sonne, und diese tragen zur marginalen, doch immerhin vorhandenen lokalen Entwicklung bei.

Misstrauische Machtpole

Für die Geldgeberseite ist Haiti ein schwacher Staat. Ob überhaupt von einem solchen zu sprechen ist, scheint fragwürdig. Was an staatlichen Strukturen existiert, ist korrupt und schädigt das Land. So werden hoheit­liche Funktionen der Rechtsprechung und der Polizeigewalt nur sporadisch ausgeübt. Der Präsident herrscht im Alleingang, die lokalen Gebietskörperschaften haben keine Mittel, und die Parlamentskammern erlassen kaum noch Gesetze. 

Parallel zu diesem mittellosen Geisterstaat existiert ein zweiter, finanzkräftiger Machtpol. Es handelt sich um eine kartellähnliche Konstellation aus internationalen Finanzinstitutionen wie IWF, Weltbank oder IDB, UN-Unterorganisationen wie UNPD, UNESCO, UNICEF oder WFP und «befreundeten» Ländern. Zur Riege der grossen Geldgeber gehören die EU, die USA und Kanada, ihre Entwicklungshilfeorganisationen wie die USAID, europäische Fonds oder die französische Entwicklungshilfeagentur.

Beiden Machtpolen gemeinsam sind ihr Handeln im Dunkeln, ihr fehlendes Verständnis der Realitäten vor Ort und ihre guten Beziehungen zu den Eliten. Die internationale Konstellation organisiert und bezahlt die politischen Wahlen. Dass diese stattfinden, heisst noch lang nicht, dass daraus eine Gesellschaft von Rechts wegen entstünde: Die zahlreichen Abstimmungen seit dem Sturz Jean-Claude Duvaliers 1986 und der Gründung des Wahlrats 1987 haben keinen Rechtsstaat hervorgebracht, geschweige denn nationale oder lokale Strukturen zum Wohl der Bevölkerung etabliert. 

Der zweite Machtpol misstraut dem haitianischen Staat, der komplett von ihm abhängig ist. Er will ihn angeblich stärken, hütet sich aber davor, ihm die Mittel dafür an die Hand zu geben, und verstärkt damit lediglich das berechtigte Misstrauen gegenüber diesem Gebilde, das oftmals mafiose Züge trägt. Letztendlich gilt: «Se blan qui desid», es entscheidet der Ausländer. Diese Abhängigkeit hat die politische Fantasie der haitianischen Gesellschaft zum Versiegen gebracht.

Zivilgesellschaft in der Zwickmühle

Die NGOs engagieren sich an den vielen Fronten der lokalen Entwicklung: fairer Handel, Lebensmittelsicherheit, Schulpflicht, Reparatur und Instandhaltung von Gebäuden, Mikrokredite, technische Ausbildung, Verwertung und Verarbeitung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, alternativer Tourismus und Gleichberechtigung der Frauen. Genauso wie die Entstehung von immer mehr Kirchen dazu beiträgt, politisches Bewusstsein durch Religiosität zu ersetzen, profitiert hier der Staat von den NGOs, weil sie seine Missstände verschleiern. Der Staat fördert die Zivilgesellschaft, um sie für seine eigenen Ziele auszunutzen. 

Im Gegensatz dazu verstärken sich seit 2010 positive Synergieeffekte zwischen NGOs und der restlichen Zivilgesellschaft. Oft aber funktionieren diese Organisationen nach ihren eigenen Prinzipien, die von religiösem Bekehrungseifer bis zu der Absicht reichen, sich im Land dauerhaft zu niederlassen. Ist ein Projekt einmal abgeschlossen, fällt es vielen NGOs schwer, es den Behörden zu übergeben. So bieten die fruchtbarsten Erfahrungen keine allgemeingültige Alternative, mit deren Hilfe Haiti den Teufelskreis seiner Anfälligkeit durchbrechen könnte. 

Neben solchen institutionellen Abhängigkeiten gibt es «das Land ausserhalb». So bezeichnet der An­thropologe Gérard Barthélemy die auf dem Land oder in den Elendsvierteln lebende Mehrheit der Haitianer, die vom politischen Leben ausgeschlossen sind. Trotz den schlimmen Ereignissen ihrer Geschichte ist ihre Kultur der Partizipation, des Protests und der kollektiven Zusammenarbeit in ihren Grundzügen erhalten geblieben. Es gibt zahlreiche bäuerliche Genossenschaften, Stadtteilverbände zur Wasserbewirtschaftung und Komitees zur Gründung neuer Krankenstationen. Sie sind zwar häufig isoliert, doch die Verbindung mittels Telekommunikation hilft ihnen, mit eigenen Mitteln zu überleben. 

Good Governance statt Demokratie 

Internationale Institutionen und Entwicklungshilfe­organisationen einzelner Länder verlangen oft Qualitätsprüfungen von ihren Partnern. Doch vergleichen sie die von ihnen tatsächlich eingesetzten Mittel und deren Wirkung mit gleicher Akribie? Die kanadische Entwicklungshilfeorganisation ACDI stellte ihre Arbeit eine Zeit lang ein, weil Bedenken wegen Misswirtschaft aufkamen und Projekte nicht zielführend waren. 

Die internationale Gemeinschaft als Parallelmachthaber in Haiti zieht den Anglizismus von Good Governance dem der Demokratie vor. Doch keines der beiden Konzepte funktioniert – weder an der Spitze der politischen Pyramide noch an der Basis –, und das verhindert die Bildung neuer Strukturen. Die Amnesie in allen Bereichen, die bescheidene Koordination zwischen den Akteuren und der «existenzielle Stillstand», wie es der Schriftsteller René Depestre formulierte, lassen nicht auf einen strukturierten Neuaufbau hoffen. 

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