«Die Ökobilanzdaten in der Schweiz bestechen durch Effektivität und Stringenz»
«Ich teile das Ziel des Kantons Graubünden uneingeschränkt, eine klimaneutrale Zukunft mit Netto-Null-Gebäuden zu ermöglichen. Leider werden im Gespräch Aussagen gemacht, die fachlich nicht korrekt oder missverständlich sind. Folgende Sachverhalte möchte ich erläutern:
- Nicht erneuerbare Primärenergie ist nicht gleich Treibhausgasemissionen: Ein Gleichsetzen des nicht erneuerbaren Anteils des Primärenergieverbrauchs mit «Treibhausgasemissionen» ist inhaltlich falsch und irreführend. Ein Vergleich der Umweltkennwerte von Biogas und Erdgas, gemäss KBOB-Empfehlung 2009/1:2022, zeigt zum Beispiel: Der nicht erneuerbare Primärenergiebedarf von Biogas liegt bei lediglich 28% des Werts von Erdgas; trotzdem sind fast halb so viele Treibhausgasemissionen zu bilanzieren. Biogas verursacht also doppelt so viele Treibhausgase wie Erdgas bezogen auf den Bedarf an nicht erneuerbarer Primärenergie.
- Die Treibhausgasemissionen der Erstellung können nicht durch Photovoltaik-Überschussstrom amortisiert werden: Grosse Photovoltaik-Anlagen an und auf Gebäuden sind sinnvoll, aber keine taugliche Massnahme die Treibhausgasemissionsbilanz von Gebäuden – bei Bau, Betrieb und Rückbau – auf Netto-Null zu senken. Die erwähnte Amortisation der grauen Energie durch Überschussstrom aus der eigenen Photovoltaikanlage beruht auf folgendem Gedankenmodell: Was passiert, wenn diese Menge Photovoltaik-Strom eingespeist wird? Werden andere Kraftwerke weniger Strom produzieren und falls ja, nur fossile? Oder erhöht das zusätzliche Angebot an PV-Strom auch den Konsum?
Vermutlich wird es eine Kombination dieser Optionen sein. Nehmen wir aber weiter an, lokal erzeugter PV-Strom verdrängt die Nachfrage nach Strom aus einem Erdgaskraftwerk. Dadurch sinkt der «Treibhausgasgehalt» im Strommix des Energieversorgers. Gemäss dem Amortisationsmodell wird die potenziell vermiedene Treibhausgasemission dem PV-Gebäude nun aber als Gutschrift respektive Kredit zugeordnet, um dessen eigene graue Treibhausgasbilanz auszugleichen.
Dem Energieversorger bleibt dagegen nichts anderes übrig, als die Treibhausgasintensität in seinem Strommix zu belassen. Möchte der Energieversorger jedoch selbst von der Differenz zwischen PV und Erdgas profitieren und den PV-Überschussstrom als Produkt mit niedriger Treibhausgasemission anbieten, schliesst dies die Gutschrift in der Gebäudebilanz aus. Ein Doppelzählen der Gutschrift sowohl beim Gebäude als auch beim Stromangebot ist nicht möglich. Generell lässt sich sagen: PV-Überschussstrom taugt ebenso wenig wie das Wiederverwenden von Bauteilen oder das Einkaufen von CO2-Zertifikaten dazu, Treibhausgase physikalisch aus der Atmosphäre zu entfernen.
- Das Ökobilanzieren von Gebäuden hat eine über 30-jährige Tradition: Gegen Ende der 1980er-Jahre wurden Ökobilanzen für die ersten Null-Heizenergiegebäude in Wädenswil und Burgdorf an der ETH Zürich erstellt. Aus diesen Arbeiten sind unter anderem die SIA Dokumentation D 0123:1995 «Hochbaukonstruktionen nach ökologischen Gesichtspunkten» und 2007 die erste Version der KBOB-Empfehlung «Ökobilanzdaten im Baubereich» entstanden. Im internationalen Vergleich bestechen die in der Schweiz darauf basierenden Datengrundlagen, Nachweismethoden und Gebäudelabels durch Effizienz, Effektivität, Einfachheit und Stringenz.
Langjährige Erfahrungen mit dem Ökobilanzieren von Gebäuden haben auch zu wertvollen Hinweisen über die «Einflussgrössen» im aktuellen Merkblatt SIA 2032:2020 «Graue Energie – Ökobilanzierung für die Erstellung von Gebäuden» geführt. Ausserdem leiten sich daraus Richt- und Zielwerte für Primärenergie und Treibhausgasemission gemäss Merkblatt SIA 2040:2017 ab, das derzeit in eine Norm überführt wird.
Ich bin überzeugt, dass sich die zuverlässigen und praxiserprobten Grundlagen eignen, um den Gebäudepark der Schweiz in Richtung Netto-Null-Treibhausgasemissionen zu transformieren. Tragen wir diesen deshalb Sorge.»
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