Tanz ent­lang der Mo­men­ten­li­nie

Neubau Tramdepot Bolligenstrasse, Bern

Das Tramdepot Bolligenstrasse in Bern kann als gebaute Symbiose von Funktion und Poesie gelesen werden. Für das Projekt spannten der ­Architekt Christian Penzel und der Ingenieur Martin Valier zusammen und entwickelten durch stetiges Nachjustieren die optimale Form für einen Bau, der mit jeder weiteren Etappe an Kraft gewinnt.

Publikationsdatum
18-12-2024

Im Jahr 1871 holperten in Bern zum ersten Mal Pferdeomnibusse über das Kopfsteinpflaster. Die eigentliche Geschichte des städtischen Personentransports beginnt aber erst 1888 mit der Gründung der Berner Tramway-Gesellschaft (BTG). Zwei Jahre später rollte das erste mit Druckluft betriebene Tram durch die Strassen. Die elektrische Traktion war damals zwar schon bekannt, aber mit den lästigen Fahrleitungen wollte sich niemand abgeben.

So wurde das erste Depot «Sulgenau» am heutigen Eigerplatz an einem geografischen Tiefpunkt angelegt, damit die Fahrzeuge jederzeit ins Depot zurückrollen konnten, wenn der «Pfuus» ausging. Die Trams erfreuten sich von Anfang an grosser Beliebtheit und beförderten jährlich eine Million Fahrgäste – notabene mit nur 16 Sitz- und zwölf Stehplätzen pro Fahrzeug. Die zweite Linie wurde mit Dampf betrieben, hatte aber bald ausgedient, da der elektrische Antrieb grosse Fortschritte machte: Ab 1901 fuhr der Grossteil der Fahrzeuge mit Strom.

Das Tram als Siedlungskatalysator

Der Einsatz von Trams verbesserte den Nahverkehr entscheidend und förderte damit nicht nur im Grossraum Bern die Entstehung erster Ballungszentren. Über die Jahre sind die Passagierzahlen schweizweit konstant angestiegen und auch die Stadtberner Verkehrsbetriebe Bernmobil bauen ihr Liniennetz – und damit die Tram- und Busflotte – stetig aus. So steht aktuell die Netz­erweiterung nach Ostermundigen und Kleinwabern an.

Das Wachstum bedeutet auch mehr Platzbedarf für Unterhalt und Unterstand. Das Tramdepot am Eigerplatz genügt den betrieblichen Anforderungen nicht mehr, die neuen Tramlinks sind zu lang und eine Erweiterung ist nicht realisierbar. Die Abstellkapazitäten sollen in Zukunft ein neues Depot in der Bodenweid westwärts Richtung Bümpliz sowie das Tramdepot Bolligenstrasse im Berner Osten sicherstellen. Letzteres ersetzt das ehemalige Tramdepot Burgernziel, das inzwischen abgebrochen und als ganzes Areal von der Stadt Bern im Baurecht abgegeben wurde.

Für das Tramdepot Bolligenstrasse hat Bernmobil mit dem ­Areal der ehemaligen Militärkaserne einen geografisch sinnvollen Standort gefunden, um den Trambetrieb mit der Schleife am Guisanplatz zu verknüpfen. Wo früher ein Zeughaus und Lagerhallen für Pferdefutter standen, entsteht nun Schritt für Schritt ein Gebäude für die wachsende Bus- und Tramflotte.

Den offenen Wettbewerb, der bereits drei Etappen vorsah, gewann 2008 das Architekten- und Inge­nieur-Duo Christian Penzel und Martin Valier. Sie fanden eine architektonische Antwort auf die technischen Herausforderungen. Die erste Etappe wurde 2011 eröffnet, die zweite, die unter laufendem Betrieb erstellt wurde, Ende 2023. Die dritte Etappe ist geplant, damit die Fahrzeuge nach der Aufgabe des Depots am Eigerplatz samt der Werkstatt umziehen können.

Mit Blick in die Zukunft konzipiert

Seit der Jahrtausendwende werden die Berner Trams aufgrund der gestiegenen Anforderungen mit einer Breite von 2.3 m gebaut. Wem der Sprung von den alten, 2.2 m breiten Vevey-Trams von 1987 marginal erscheint, dem sei versichert, dass hier jeder Zentimeter zählt. So stellten beispielsweise der Begegnungsradius bei der Kreuzung am Zytglogge-Turm und die vorhandenen Halte­kanten die Konstrukteure vor einige Herausforderungen.

Wie die Baumasse der Fahrzeuge von den vorgegebenen Verhältnissen diktiert wurden, so ist auch der Entwurf des neuen Tramdepots aus Sachzwängen entstanden. Dies aber mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass aus den scharf kalkulierten Wenderadien, den örtlichen Einschränkungen und den Sicherheitsnormen ein geradezu poetisches Bauwerk hervorging. Den Bau entwickelten Penzel Valier bereits im Wettbewerb als stützenfreie Stahlkonstruktion, um die zur Verfügung stehende Fläche bis zum letzten Zentimeter auszunutzen und dem Betrieb maximale Freiheiten zu geben. Einzig eine Reihe von grossformatigen V-­Stützen aus Stahl unterteilt die Halle.

Menge an verbautem Stahl: 1. Etappe Depot: 2915 Tonnen, 2. Etappe Erweiterung: 1100 Tonnen, Brücke über Autobahn: 385 Tonnen

Die «Wirbelsäule», wie Christian Penzel diese nennt, verspringt auf der Höhe der zukünftigen Erweiterung. Die Stützenreihe ist am Fusspunkt eingespannt und leicht geneigt, um das Momentenmaximum zu optimieren. Dies erlaubte es Penzel Valier, den Knick im Untergurt der Fachwerke zu verschieben, der im Wettbewerb noch direkt über der Stütze lag, und damit statische Höhe zu gewinnen. Das Fachwerk aus zwischen 15 mm und 150 mm starken, statisch optimierten Blechprofilen liegt auf der druckbelasteten «Wirbelsäule» auf und kragt beidseitig wie Kranausleger aus. Aus der variierenden Höhenentwicklung entsteht im Gebäudequerschnitt eine Schmetterlingsform, die den Momentenverlauf optisch abbildet. Der tiefste Punkt wird durch das Lichtraumprofil der Trams definiert, von wo das Dach mit einer klassischen Spenglerneigung von 3.5 ° ansteigt. Im Bereich des Etappenübergangs setzten Penzel Valier einen weiteren Knick ein, um die Fügung sichtbar zu machen.

Weitere Beiträge zum Thema Stahl finden Sie in unserem E-Dossier.

Die Konstruktion basiert auf einem 45-m-Raster, das der Länge der neuen Tramlinks von 42.5 m plus Fluchtweg entspricht. Das Raster wiederum ist in Abschnitte mit einem Trägerabstand von 7.5 m und 10 m unterteilt, wobei die Fachwerkträger entsprechend höher werden und im hinteren Bereich des Gebäudes einen Kopf bilden.  Die erhöhten Hauben haben gleich mehrere Vorteile: Zum einen fällt durch die Glaseinsätze seitlich Licht in die Halle, zum anderen konnte so die Sicherheit im Brandfall gewährleistet werden, ohne die Halle unterteilen zu müssen. Eine Simulation zeigt, dass die Sheds den Rauch sammeln, der über die RWA am höchsten Punkt entweichen kann. Gleichzeitig entsteht durch den Glaseinsatz ein Gewächshauseffekt, der die Halle passiv beheizt und die Fahrzeuge vor Frost schützt.

Beheizt sind in diesem Bau nach dem «Haus-in-Haus»-Prinzip nur die Werkstätten und Aufenthaltsräume. Auf den Trägern liegen vorgefertigte Rippenplatten aus Holz auf, die durch ihre dunkle Grafitlasur mit den Stahlelementen zu verschmelzen scheinen und in Kombination mit dem Stahl an die Decken alter Industriehallen erinnern. Die Holzplatten dienen zudem zur Stabilisierung der Stahlkonstruktion gegen laterale Windkräfte.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 28/2024 «Stützenfrei mit Stahl»

Neubau Tramdepot Bolligenstrasse, Bern

Bauherrschaft
Bernmobil

Generalplanung /
Architektur /Tragwerk
Penzel Valier, Zürich

Bauphysik/-akustik
BAKUS Bauphysik & Akustik, Zürich

Betriebshofsteuerung
Hanning & Kahl, Oerlinghausen (D)

Elektroplanung
HKG Engineering, Schlieren

Fahrleitungsbau
Furrer + Frey, Bern

Bahntechnik
Trelco, Muhen

Planung Stahlbau
Konstruktionsbüro für Stahlbau BOCAD 3D, Emmen

Fassadenplanung
Penzel Valier, Zürich

Planung PV-Anlage
Ingenieurbüro Hostettler, Bern

Gleisbau
Basler & Hofmann, Zürich

Gebäudesimulation
AFC Air Flow Consulting, Zürich

Tiefbau
B + S, Bern

HLKS-Planung
Grünig & Partner, Liebefeld-Bern

Landschaftsarchitektur
Raymond Vogel Land­schaften, Zürich

Sicherheitsplanung
Gruner Gruneko, Basel

Umweltbaubegleitung /Fahrleitungsplanung
TBF + Partner, Zürich

Brandschutzplanung
BDS Security Design, Bern

Gebäudevolumen (SIA 416)
165 000 m3

Gebäudekosten (BKP 2)
1. Etappe: 65 Mio. Fr., 2. Etappe: 38 Mio. Fr.

Vergabeform
Offener Projektwettbewerb (SIA 142)

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