Seit 100 Jahren: Gotthard unter Strom
Es war ein noch nie dagewesenes, historisches Ereignis am 1. Juli 1920, eine Revolution im Verkehrswesen – und dauerte nur einige Stunden. Erstmals fuhren Züge mit Strom betriebsmässig durch den Gotthard-Eisenbahntunnel – bis zum Desaster um 20:15 Uhr.
Strombetriebene Züge durch den Gotthard? Möglich machte dies 1920 ein neues Wasserkraftwerk auf Tessiner Seite des Passes: Ritom. Das Zeitalter der kohlebetriebenen Dampflokomotiven neigte sich dem Ende zu, aufgrund des Ersten Weltkriegs stockte der Kohlenachschub – ein weiterer guter Grund für die Schweizerischen Bundesbahnen, auf die modernere Antriebstechnik umzuschwenken.
Nun also Ritom, ein Speicherkraftwerk östlich von Airolo, das den grössten Tessiner Bergsee anzapfte und den Höhenunterschied von etwa 800 m zum Talboden bei Piotta ausnutzte. Der Baubeginn fiel ins Jahr 1917, die Planungen zur Stromversorgung des Gotthards hatte aber bereits die Gotthardbahn, die später in den SBB aufging, seit 1907 angedacht.
Ein zweites Kraftwerk sollte auf der Nordseite des Passes entstehen: Amsteg, das das Wasser der bei Wassen am sogenannten Pfaffensprung aufgestauten Reuss verstromte. Eine etwa 7 km lange, unterirdische Druckleitung führte hierfür das Wasser bis zu den stählernen, oberirdischen Fallleitungen am Eingang des Maderanertals.
Beide Kraftwerke ermöglichten die Bereitstellung von genügend Strom für den Abschnitt von Erstfeld nach Bellinzona und wurden später durch weitere Kraftwerksbauten beidseits des Gotthards ergänzt. Amsteg wurde mittlerweile erneuert, bei Ritom geschieht dies derzeit (vgl. «Der Gotthard-Strom der Zukunft»).
Die Lage von Ritom und Amsteg diesseits und jenseits des Passes hatte einen bedeutenden Vorteil: Redundanz. Sollte ein Kraftwerk auf einer Seite ausfallen, etwa durch ein Naturereignis wie Hochwasser, ist eine hohe Wahrscheinlichkeit gegeben, dass das Werk auf der anderen Seite der Wetter- und Wasserscheide Gotthard noch weiterhin Strom liefern kann.
Auch ergänzen sich Ritom und Amsteg recht gut. Während Amsteg relativ kontinuierliche Zuflüsse im Sommer aufweist – es staut die Reuss nur mit einem kleinen Stauraum und verstromt Wasser praktisch sofort –, besitzt Ritom mit dem Ritomsee als Oberwasser ein grosses Stauvolumen und ist daher prädestiniert, Winterstrom bereitzustellen. Durch die im Winter bedingte Absenkung des Sees steht das Becken für die Schneeschmelze im Frühjahr wieder zur Verfügung.
Amsteg ging erst 1923 in Betrieb, jedoch hatte das Desaster vom 1. Juli 1920 bei der Eröffnung von Ritom direkte Auswirkungen auf seinen Bau.
Ritomsee – natürlich? Natürlich gestaut!
Der Ritomsee entwässerte über den Fossbach, der zwischen einem Felsriegel entsprang. Die anfänglichen Planungen des Kraftwerks sahen noch gar keinen Aufstau des natürlichen Sees vor: Zum einen hätte die Leistung der beiden Werke Ritom und Amsteg nach deren Fertigstellung auch ohne Aufstau für den damaligen Verkehr ausgereicht, zum anderen lagen ernüchternde geologische Einschätzungen vor.
Kein Geringerer als die Geologie-Koryphäe Albert Heim – nach ihm wurde auch eine SAC-Hütte benannt – und sein Schüler und Kollege Paul Arbenz beurteilten die Lage derart, «dass kaum ein Fall künstlicher Stauung bekannt sei, wo die Voraussage für die Undurchlässigkeit des Untergrundes von vorneherein so ungünstig, so verneinend lauten müsste, wie hier in diesem von Trias durchzogenen Becken» 1.
Heute ist dieses Becken als Piora-Mulde bekannt. Sie war die schwierigste geologische Störzone und das grösste Fragezeichen bei der Durchörterung des Gotthard-Basistunnels. Zuckerförmiges, rieseliges Dolomitgestein liegt hier an. Aufgrund seiner Beschaffenheit ist praktisch stets mit Wasseranfall zu rechnen, allerdings ist schwer abschätzbar, wo genau.
Der Ritomsee liegt nun direkt in dieser Zone, nordwestlich grenzt das Gebiet an das Gotthardmassiv, südöstlich schliesst die penninische Gneiszone mit Lucomagnogneisen an. Bei einer Seespiegelerhöhung durch Aufstau wären die Flanken des grösseren Sees in den 1920er-Jahren kaum abzudichten gewesen, und auch der erhöhte Wasserdruck auf die Sohle hätte eine höhere Versickerungsrate nach sich ziehen können.
Eine ausführlichere Version dieses Artikels finden Sie in TEC21 21–22/2020 «Kraftwerk Ritom: Des Gotthards Antrieb».
Nun bekamen die SBB aber 1915 von der Motor AG, die später zur Motor Columbus AG fusionierte und letztlich in der Alpiq aufging, die Anfrage, ob man den Ritomsee um 2 m aufstauen dürfe. Die Motor AG wollte mit einer Heberleitung im Winter Wasser aus dem Ritomsee abführen, um die Wasserführung im Ticino aufzubessern und dadurch eine höhere Stromausbeute in ihrem Kraftwerk Biaschina zu erreichen.
Die SBB stimmten dem Vorhaben zu, und tatsächlich ergaben sich keine Wasserverluste trotz geringfügiger Stauung. Daher beschlossen die SBB, nun doch eine Staumauer zu errichten, um den Ritomsee um 7 m aufzustauen. Die Motor AG verpflichtete sich, «einen namhaften Beitrag» an den Arbeiten beizutragen und ausserdem den Strom hierfür kostenlos zu liefern.1 So entstand die erste Staumauer am Ritomsee, eine dreibogige Gewichtsmauer aus Natursteinen gemauert, 170 m lang und 8 m über dem natürlichen Seespiegel.
Dünner Fels zwischen See und Arbeiter
Die Arbeiten an der Wasserfassung wirken aus heutiger Sicht geradezu kühn. Im den See absperrenden Felsriegel wurde westlich des Fossbachs ein Schacht etwa 35 m tief abgeteuft. Dieser nahm die Schieberkammer auf, um den späteren Seeausfluss mittels eingebauter Drosselklappen regulieren zu können. Gleichzeitig wurde vom Fossbach her ein Stollen zur Schieberkammer vorgetrieben, der später als Grundablassstollen benutzt werden konnte.
Von der Schieberkammer bohrte und sprengte man sich weiter in Richtung See, der auf etwa 30 m unter dem Wasserspiegel angezapft werden sollte. 220 m betrug die Gesamtlänge des Stollens zwischen Bach und See. Als Vorsichtsmassnahme erfolgte ab einer Länge von 85 m von der Schieberkammer weg stets eine 3.50 m lange Sondierbohrung, um keinen vorzeitigen, unvorhergesehen Wassereinbruch aus dem See zu erleben – schliesslich war man nur noch etwa 30 m vom Wasser entfernt, Tendenz abnehmend.
Vor der letzten Sprengung betrug die Felsstärke nur noch 1.35 –1.75 m – dahinter lasteten 30 m Wassersäule auf dem Gestein. Eine letzte Sprengung brachte den gewünschten Durchbruch – wie vorausberechnet flossen 8 m3/s aus dem See über die Schieberkammer durch den Grundablassstollen in den Fossbach. Nach etwa sieben Wochen hatte sich der Seespiegel so weit abgesenkt, dass das Einlaufbauwerk mit Fischrechen gebaut werden konnte.
Je nach anzutreffendem Gestein – Gneis, Glimmerschiefer, Dolomit oder Rauwacke – setzte man verschiedene Profiltypen des Stollens an, mit Betonwandstärken zwischen 15 und 25 cm im Gneis und 25 bis 35 cm in den übrigen Gesteinen, allesamt innen mit armiertem Zementverputz versehen. Damit der Stollen dem auftretenden Innendruck standhalten konnte, musste ein sattes Anliegen des Betonrings am Fels gewährleistet werden. Daher bohrte man alle zwei Meter im Stollengewölbe Löcher, um dort Zementmilch mit Sand zu injizieren.
Steile Standseilbahn für starke Stahlrohre
Die 786 m Fallhöhe zwischen Apparatekammer am Austritt des Druckstollens an die Oberfläche und der Kraftwerkszentrale im Talboden wurde mit oberirdischen Stahlrohren überbrückt. Im steilsten Abschnitt weisen die Leitungen ein Gefälle von 87.8 % auf. Geplant waren zwei Druckleitungen bis zur Zentrale. Stattdessen teilte man die beiden von oben kommenden Leitungen vor dem Kraftwerk auf vier Rohre kleineren Durchmessers auf.
Der Grund war ein pragmatischer: Im untersten Teil ist der Wasserdruck am höchsten, sodass es bei zwei Röhren Rohrwandungen von 45 mm bedurft hätte. Diese waren in Kriegszeiten jedoch nicht erhältlich – Stahl und Eisen wurden von den kriegsführenden Nationen für ihre Zwecke missbraucht.
Durch die Anordnung von vier Strängen und die dadurch erreichte Verkleinerung der Rohrdurchmesser reichten nun vor der Zentrale Wandstärken mit 35 mm aus. Bei den hochgelegenen Leitungen gehen die Wandstärken bis auf 8 mm zurück. Für eine zukünftige Leistungsanpassung wurden jedoch bereits die Fundamente für eine weitere Fallleitung mitsamt ihrer Aufteilung umgesetzt.
8 m lang war jeder Rohrschuss, wodurch sich gleiche Abstände ihrer Lager auf den Sockeln ergaben. Für ihren Transport und den von Baumaterialien für die anderen Objekte richtete man direkt neben dem Leitungstrassee eine Standseilbahn ein. Sie wurde nach der Bauvollendung für den öffentlichen Verkehr freigegeben und zählt heute noch zu den steilsten Bahnen ihrer Art. Sie bedient sogar Zwischenstationen auf ihrem Weg.
Das Werk läuft an, dann aus dem Ruder
Das Kraftwerk Ritom ging an den Start, die ersten strombetriebenen Züge durchfuhren den Gotthard. Allerdings hatten sich bei einer Druckprobe im unterirdischen Druckstollen zum Wasserschloss hin feine Risse gebildet. Sie wären bei anliegendem, wasserundurchlässigem Gestein kaum ins Gewicht gefallen. Im anstehenden schlechten, inhomogenen Gestein aber traten Wasserverluste von bis zu 400 l/s auf – und keiner konnte sagen, wohin das Wasser lief. Eine fatale, höchst kritische Situation.
Um 20:15 Uhr am 1. Juli 1920 erfuhr man, was mit dem Wasser passierte: 200 m östlich des Wasserschlosses und 35 m unterhalb der dortigen Strasse trat ein starker Wasserausbruch zutage. «Ein heftiger Knall wurde vernommen; man sah eine gelbe Staubwolke aufsteigen und ein Muhrgang, verbunden mit einigem Steinschlag, ergoss sich durch die steile Furche westlich oberhalb von Altanca. Die Hauptmasse machte, nachdem sie östlich eine Partie Hochwald wegfegte, in der Höhe des Waldrandes halt, der Wasserschwall gelangte aber in den Weg Altanca-Brugnasco hinab, dort einige Verheerung anrichtend, und einzelne Steine und Blöcke flogen bis in die Wiesen unterhalb des Weges und zur Druckleitung, ohne Schaden zu verursachen. Das Werk wurde sofort abgestellt … », beschreibt der Geologe Arbenz die Situation in seinem Bericht vom 19. Juli, der auf einer Begehung der Unglücksstelle am 4. Juli fusste.3
Wie weiter?
Glücklicherweise waren durch das Unglück keine Personen zu Schaden gekommen. Allerdings blieb der elektrische Betrieb des Gotthardtunnels noch einige Zeit eingestellt. Die Risse beliefen sich auf insgesamt 2800 m Länge in der 868 m langen Röhre. Die Untersuchungen ergaben, dass die Rissbildungen in der Betonröhre hauptsächlich auf auftretende Hohlräume zwischen Beton und Gebirge zurückzuführen seien. Gesteinslockerungen aufgrund der Sprengarbeiten und die Plastizität des Gebirges hatten ebenfalls ihren Anteil an den Rissen.
Wie sollte mit dem Werk nun verfahren werden?
Ein Auskleiden des Druckstollens mit Stahl oder Eisenbeton wurde aus Kosten- und Zeitgründen verworfen. Vielmehr trachtete man danach, nach einer Ausspritzung der Risse den Druck im Stollen auf ein Mass zu reduzieren, bei dem keine Wasserverluste mehr auftraten. Über die Drosselklappen in der Schieberkammer wurde der Zufluss zum Stollen händisch reguliert.
Im Anschluss an die Schieberkammer wurde ein Überlauf eingebaut, der überschüssiges Wasser in einen Bypass in den Grundablassstollen ableiten konnte. Dadurch war die um etwa 35 m reduzierte Stauhöhe vorgegeben, der Druck im unteren Teil des Stollens vor dem Wasserschloss auf 8 m Wassersäule reduziert, und das Werk konnte seinen Betrieb ein halbes Jahr später erneut aufnehmen.
Spätere Anpassungen
Die Staumauer von 1920 am Ritomsee ist heute nicht mehr zu sehen. 1953 wurde sie in eine neue, höhere und geradlinig verlaufende Gewichtsstaumauer integriert. Mit einer Höhe von 23 m staut diese den Ritomsee nun auf bis zu 1850.25 m Höhe. Auch die Schieberkammer und das alte, seit 1861 bestehende Hotel Piora verschwanden mit der Anpassung. Das Hotel hätte im grösseren Stausee nasse Füsse bekommen und wurde daher gesprengt.
Zugleich erfolgte eine Erweiterung des Einzugsgebiets des Ritomsees über Konzessionen. Über den Garegnastollen (vgl. «Quo vadis?») wird Wasser aus dem benachbarten Val Canaria zum See geführt. Der Stollen nimmt sogar noch zugeführtes Wasser aus der Unteralpreuss im Kanton Uri auf.
Und das nächste Kapitel? Es heisst Pumpspeicherung, wurde in den 1960er-Jahren bereits angedacht und vorbereitet und wird derzeit umgesetzt (vgl. «Der Gotthard-Strom der Zukunft»). Einher geht diese Kraftwerksanpassung mit der Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben zur Schwall- und Sunkminderung.
Naturschutz respektive -schonung ist im 21. Jahrhundert im Wasserbau stets ein Thema.
Neu ist der Naturschutzgedanke allerdings nicht. Bereits 1916 heisst es in der Schweizerischen Bauzeitung zum Bau des Kraftwerks Amsteg, das 1998 durch Amsteg II ersetzt wurde und heute unter Denkmalschutz steht: «Es sei hier noch eine besondere Bemerkung erlaubt. Der Bau des Reuss-Kraftwerks berührt zwei Stellen von hervorragender landschaftlicher Schönheit und verkehrsgeschichtlicher Bedeutung: die wildromantische, tiefe Reuss-Schlucht am Pfaffensprung und den Beginn der eigentlichen Bergstrecke des alten Gotthard-Saumweges … Beide Stellen haben Anspruch auf möglichste Schonung ihres gegenwärtigen Aussehens. Am Pfaffensprung bleibt die Schlucht, soweit sie von der Brücke aus einzusehen ist, laut Lageplan zwar unberührt … Auch der alte Gotthardweg bleibt geschont … Das bietet aber noch keine Gewähr für genügenden Naturschutz, wie wir ihn hier, vor den Augen der unzähligen Gotthard-Reisenden der Neuzeit auf der gegenüberliegenden Bahn, beanspruchen möchten … Erfahrungsgemäss wird beim Bau solcher Kraftwerke sehr viel verwüstet, was nie mehr vernarbt, was aber mit etwas gutem Willen der Bauleitung vermieden werden kann … Der an dieser Stelle ungewohnte Appell zu einem umfassenden Naturschutz, auch wenn er etwas weniges kosten sollte, scheint uns im vorliegenden Fall besonders auch deshalb gerechtfertigt, weil, zum ersten Mal auf diesem Gebiet, der Bund selbst als Bauherr auftritt.» 2
Damals appellierte man also noch an den Bund, heute legt dieser selbst die Gesetze vor. Und klassischer Heimatschutz galt ebenfalls als Naturschutz. Oder sah sich der Mensch früher einfach noch mehr als Mitglied und Teil der Natur?
Anmerkungen und Literatur
1 Schweizerische Bauzeitung, Band 81, Nr. 20, 19. Mai 1923.
2 Schweizerische Bauzeitung, Band LXVIII, Nr. 3, 22. Juli 1916.
3 Bericht vom 19. Juli 1920 von Prof. Dr. P. Arbenz an die Abteilung für Elektrifikation, Bern (Abschrift), Quelle: SBB Historic (Archivsignatur GD_BAU_SBBKW91_224_19).
Schweizerische Bauzeitung, Band 83, Nr. 1, 5. Januar 1924.
Schweizerische Bauzeitung, Band LXXVII, Nr. 17, 30. April 1921.
Schweizerische Bauzeitung, Band LXXVI, Nr. 2, 10. Juli 1920.
Wikipedia
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