«Recycling von Stahl ist seit über 100 Jahren etabliert»
Das Stahlbauzentrum Schweiz (SZS) hat einen neuen Geschäftsführer und eine neue Technische Leiterin. Wie sehen sie die Zukunft des Stahlbaus in der Schweiz? Inwiefern kann dieser Baustoff – klug angewendet – zum Klimaschutz beitragen? Wir haben nachgefragt.
TEC21: Laurent Audergon, Dr. Hetty Bigelow, welche Ziele verfolgt das SZS?
Laurent Audergon: Unser übergeordnetes Ziel ist es, die Stahlbauweise in der Schweiz zu fördern. Zum einen verfolgen wir den Stand des Wissens und halten die von der Branche anerkannten technischen Regeln fest. Zum anderen setzen wir uns in der Aus- und Weiterbildung ein: Wir unterstützen Hochschulen bei der Vermittlung von stahlspezifischen Inhalten an angehende Planerinnen und Planer und bieten selbst Fortbildungen, Beratungen und Know-how-Transfer an. Und wir mischen uns in die aktuelle Klimadiskussion ein, um Bauherrschaften und Planenden aufzuzeigen, dass der Baustoff Stahl – richtig angewendet – äusserst nachhaltig ist.
In Bezug auf graue Energie bzw. graues CO2 hat Stahl Nachteile: Seine Herstellung erfordert Temperaturen von rund 1400 °C, ist also sehr energieintensiv und oft auch mit einem hohen CO2-Ausstoss verbunden.
Audergon: Das stimmt für die Roheisen- und Rohstahlherstellung (Primärmetallurgie); wenn man aber bei der Stahlproduktion (Sekundärmetallurgie) genau hinschaut, überwiegen andere Argumente. Das Verhältnis zwischen Tragfähigkeit, grauer Energie und Zirkularität von Stahl ist hervorragend. Man kann Stahl sehr ressourceneffizient einsetzen und wiederverwenden. Er eignet sich für Element- und Leichtbau, also für Bauweisen, die sich für die Verdichtung bestehender Siedlungen eignen, zum Beispiel für Umbauten, Erweiterungen und Aufstockungen. Dank Vorfabrikation sind die Bauzeiten kurz und die Baustellenlogistik präzise planbar. Weil das Material isotrop und homogen ist, sind seine Eigenschaften genau berechenbar, sodass es flexibel und polyvalent eingesetzt werden kann. Zudem eignet es sich für die Kreislaufwirtschaft, weil es langlebig, wiederverwendbar und perfekt recycelbar ist.
Weitere Beiträge zum Bauen mit Stahl finden Sie in unserem E-Dossier.
Dr. Hetty Bigelow: Jeder energieintensive Betrieb bemüht sich, seine CO2-Emissionen zu senken. Die Stahlproduktion liegt nicht in der Hand des SZS, aber mit unserer technischen Arbeit können wir Planungsfachleute bei der klimaschonenden Auslegung von Stahlbauten fördern. Im Stahlbau ist die Ingenieurarbeit zentral für die ökologische Leistungsfähigkeit: Gut konzipierte, statisch hoch optimierte Tragwerke sind auch ökologisch gut. Zudem trägt der Oberflächenschutz von Stahlbauten stark zur ökologischen Performance bei. Hier gilt: So wenig wie möglich, so viel wie nötig. In diesem Bereich bieten wir umfangreiche Schulungsangebote und Publikationen an.
Wie gross ist die Nachfrage nach kohlenstoffneutralem Stahl in der Schweiz?
Bigelow: CO2-reduzierter oder gar CO2-neutraler Stahl ist derzeit noch etwas teurer als normaler Stahl. Der Erfolg dieser Baustoffe hängt daher stark davon ab, ob die Kunden überzeugt sind, dass sich diese Zusatzinvestition lohnt – wobei sich der leicht höhere Materialpreis nur marginal auf die Gesamtkosten eines Bauwerks niederschlägt. Gute Beispiele könnten als Vorbilder dienen und einen Volumeneffekt auslösen. In Zukunft wird CO2-reduziert produzierter Stahl sicher an Bedeutung zunehmen. Aber wie gesagt: Richtig angewendet, ist Stahl an und für sich schon klimaschonend. Der CO2-neutral produzierte Stahl ist nur das Tüpfelchen auf dem i.
Gemäss einem Bericht des UN-Umweltprogramms ist der Bau- und Gebäudesektor global für 38 % der CO2-Emissionen verantwortlich. Um die Ziele des Pariser Klimaschutzabkommens zu erreichen, müssen diese Emissionen bis 2030 halbiert werden. Welchen Beitrag kann der Stahlbau leisten?
Audergon: Es gibt zwei Ansätze. Erstens müssen wir unsere Gebäude nicht nur so erstellen, dass sie im Betrieb energieeffizient sind, sondern auch weniger Ressourcen bei der Herstellung, beim Transport, beim Einsatz, beim Rückbau und bei der Entsorgung von Baustoffen verschleudern. Konkret müssen wir weniger Material verbauen. Anders gesagt: weniger Massiv- und mehr Leichtbauweise, zum Beispiel in Stahl und Holz. Die Stahlbauweise an sich weiter zu optimieren, etwa durch den Einsatz von Ökostahl, ist nur noch ein kleiner Zusatznutzen.
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Ein zweiter, viel wichtigerer Hebel ist das Denken in Kreisläufen: Wir dürfen unsere Bauten nicht mehr nur für einen bestimmten Zweck errichten, um sie bei einer Nutzungsänderung abzureissen, sondern wir müssen mit einer ganzen – im Vorfeld nicht vollständig absehbaren – Kaskade von Nutzungen und von Anpassungen an gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen rechnen. Im Hinblick auf die Transformierbarkeit bis hin zur effektiven Demontage und die unkomplizierte Wiederverwendung von Bauteilen ist Stahl allen anderen Bauweisen um Lichtjahre überlegen. Diesen Vorteil sollten mehr Bauherrschaften und Planende aktiv nutzen.
Stahlbau ist geradezu prädestiniert für die Kreislaufwirtschaft, insbesondere den Re-use von Bauteilen: Die Elemente sind international standardisiert, und die Materialeigenschaften verändern sich – ausser bei extrem stark belasteten Teilen – nicht. Gibt es eine Strategie für die Kreislaufwirtschaft im Stahlbau? Wie soll diese konkret, etwa mithilfe von Bauteilkatalogen, etabliert und koordiniert werden?
Audergon: Stahlbau ist eine international sehr qualitätsorientierte Bauweise. Wenn Sie Stahl einbauen, wollen Sie wissen, woher er kommt und – im Fall von Re-use-Bauteilen – was er schon alles erlebt hat. Grundsätzlich bleiben die Materialeigenschaften von Stahl auch unter Belastung über die Jahre konstant: «Stahl wird nie verbraucht» ist ein Kernsatz der Lebenszyklusanalyse (LCA). Derzeit laufen Anstrengungen, solche Re-Zertifizierungen für Stahlbauteile einfach und sicher zu ermöglichen. Für Gebäude gibt es schon Lösungen; für Brücken und Sonderbauwerke brauchen wir noch etwas Geduld. Ein Projekt für eine Baustoff- und Bauteilbörse auf Schweizer Ebene habe ich als damaliger Geschäftsführer vom arv Baustoffrecycling Schweiz konzipiert, mit Unterstützung der Planer, Baumeister, Produzenten und Recycler. Wichtig ist, dass die Informationen in Bauteilkatalogen erfasst und für alle zentral verfügbar sind. Damit liessen sich auch Leertransporte vermeiden.
Wie hoch ist die schweizweite Re-use- und Recycling-Quote in der Stahlproduktion? Kommt es dabei zu einem Downcycling?
Bigelow: Da wir für die Schweiz noch keine exakten Daten erhoben haben, möchte ich auf eine Veröffentlichung des bauforumstahl aus Deutschland verweisen. Diese nennt für die im Stahlbau üblichen Grobbleche und Stahlprofile eine Recyclingquote von 88 %, 11 % werden weiterverwendet, lediglich 1 % wird deponiert. In der Schweiz dürfte es ähnlich sein. Fast der gesamte Stahl, der beim Rückbau von Gebäuden anfällt, wird rezykliert oder weiterverwendet. Was das Recycling betrifft, gibt es in der Schweiz zwei Stahlwerke; beide verwenden bei der Stahlherstellung 100 % Recyclingmaterial. In diesem Fall spricht man von Sekundärstahl, im Gegensatz zum Primärstahl, der aus Eisenerz hergestellt wird. Ein Downcycling, also die Umwandlung eines Produkts in ein qualitativ schlechteres, findet bei der Herstellung von Sekundärstählen nicht statt: Der Werkstoff wird vollständig und ohne Qualitätseinbussen wieder dem Materialkreislauf zugefügt. Aus normalfestem Stahlschrott lässt sich sogar problemlos ein höherfester Sekundärstahl erzeugen – man geht also einen Schritt weiter als beim klassischen Recycling. Die Verwendung höherfester Stähle ist übrigens eine von mehreren Möglichkeiten, die Stahltonnage zu reduzieren.
Welchen ökologischen Nutzen hat Sekundär- oder Recyclingstahl gegenüber Primärstahl?
Audergon: Recyclingstahl verwertet Schrott: Seine Herstellung braucht 70 % weniger Energie und verursacht 85 % weniger CO2 als Primärstahl, weil die Gewinnung, der Transport und die Verarbeitung des Eisenerzes entfallen. Stahlträger, die man in der Schweiz verbaut, kommen aus Schweizer und europäischen Stahlwerken und bestehen zu 100 % aus Recyclingmaterial. Stahlbleche für den Bau haben einen Recyclinganteil von immerhin 45 %.
Wie hoch ist der Marktanteil des Stahlbaus an der Schweizer Bauproduktion heute?
Bigelow: Gemäss einer Studie der Berner Fachhochschule von 2017/2018 beträgt er für Wohngebäude 1.4 %, für öffentliche Gebäude 2.5 % und für Gewerbebauten 11 %. Was den Einsatzbereich betrifft: In den Baubewilligungen 2018 waren rund 5 % der Tragwerke aus Stahl und rund 8 % der Fassaden aus Stahl oder anderen Metallen.
Das ist bescheiden.
Bigelow: Gemäss Studie ist der Anteil von Stahl 2008–2018 leicht gestiegen, aber wir wollen natürlich mehr. Deshalb ist die Aus- und Weiterbildung ein wichtiges Ziel des SZS. Die Veranstaltungen der steelacademy bieten sowohl Stahlbauexperten als auch Gelegenheitsstahlbauern und Bauherrschaften die Möglichkeit, ihr Wissen zu erweitern; dieses Jahr stehen die Themen Brandschutz, Brückenbau, Re-use und Recycling im Fokus. Zudem bieten wir praxisnahe steeltrainings an. Was den Nachwuchs betrifft, wollen wir angehende Fachleute aus Ingenieurwesen und Architektur frühzeitig von den Vorzügen des Werkstoffs Stahl begeistern: Unser Prix Acier Student Award zeichnet die besten Arbeiten der Studierenden aus. Mit dem SZS Dozentenforum fördern wir den Austausch zwischen den Dozierenden der Schweizer Universitäten und Fachhochschulen. Nicht zuletzt liefern unsere Publikationen steeldoc, steeltec und steelwork aktuelles Hintergrundwissen, Inspiration und praktische Arbeitshilfen. Für weitergehende Fragen bieten wir eine individuelle technische Beratung an – zum Beispiel, wenn Planende bei einem Umbau auf alte Stahlträger stossen, deren Eigenschaften sie nicht kennen.
Audergon: Das revidierte Umweltschutzgesetz wird dem Stahlbau Flügel verleihen, weil Zirkularität und Recycelbarkeit darin einen höheren Stellenwert erhalten. Standardisierte Bauteile aus Stahl lassen sich viel einfacher wiederverwenden als solche aus anderen Materialien, deren Eigenschaften man meist nicht genau kennt. Das Recycling von Stahl ist seit über 100 Jahren etabliert; im Vergleich dazu steckt das Recycling vieler anderer Baustoffe in den Kinderschuhen. Daher informiert der SZS möglichst umfassend über die Möglichkeiten des Baustoffs Stahl. Insbesondere möchten wir die öffentlichen Auftraggeber überzeugen, ihre umweltpolitische Verantwortung wahrzunehmen und zu mindestens 80 % Ökostahl einzusetzen; private Bauherrschaften werden ihrem Vorbild folgen. Entscheidende Schritte zur Vermeidung von CO2 bei der Stahlerzeugung sind der Einsatz von Wasserstoff (Carbon Direct Avoidance [CDA]) und die Nutzung von anfallendem CO2 (Carbon Capture and Usage [CCU]). Klimaneutralität bis 2050 ist nicht anders zu haben.