Tolstoi und der Fussabdruck
Weltliteratur und Klimaschutz – wie das zusammenhängt, erläutert TEC21-Chefredaktorin Judit Solt.
«Wenn ich mich in der Welt mal wieder nicht mehr zurechtfinde, suche ich Zuflucht in einem Buch. Nicht in einem Fachbuch, sondern in einer dieser zeitlosen Geschichten, die sich die Menschen seit jeher weitererzählen, bis sie glatt und poliert sind wie Kieselsteine und ihre Weisheit auf den Punkt bringen. Die «Ilias» oder «Krieg und Frieden» etwa, zwei grandiose Berichte über internationale Machtpolitik, vermitteln zuverlässig Einsichten in heutige Konflikte.
Selbst für Situationen, die es in früheren Epochen noch gar nicht gab, hält die Weltliteratur universelle Lehren bereit. So fiel mir neulich die Geschichte des Bauern Pachom wieder ein, der ein Leben lang danach strebt, seinen Besitz zu mehren. Eines Tages bekommt er die Chance, so viel Land zu erwerben, wie er vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang zu Fuss umrunden kann. Dabei nimmt er sich ein zu grosses Stück vor und muss am Ende des Tages rennen, um die Runde zu vollenden, sodass er schliesslich erschöpft zusammenbricht und stirbt. Sein Diener begräbt ihn an Ort und Stelle, in einer Grube, die er nach den Abmessungen des Leichnams aushebt – womit auch die Frage im Titel der Erzählung geklärt wäre: «Wie viel Erde braucht der Mensch?»
Dieser Titel poppte in meiner Erinnerung auf, als ich neulich eine Meldung des «Global Footprint Network» las. Die Non-Profit-Organisation mit Sitz in Oakland quantifiziert den ökologischen Fussabdruck der Menschheit und mahnt, dass wir heute durchschnittlich 1.75 Erden bräuchten, um unsere Gier nach natürlichen Ressourcen zu stillen. Als reiches Land rangiert die Schweiz mit 2.8 Erden deutlich über dem Durchschnitt. Wie viele Erden braucht der Mensch?
Die Antwort erübrigt sich, wir haben ja nur eine. Jetzt könnten wir zur Tat schreiten und den Ressourcenverschleiss stoppen. Warum tun wir es nicht? Wir haben Vorsätze, Konzepte, Ideen, Bemühungen, Regulatorien, Anreize, Abkommen und Grenzwerte, um eine nachhaltige Entwicklung zu fördern. Wir unterstützen gut dotierte Non-Profit-Organisationen, die uns zur Besserung mahnen. Wir beteuern unsere Betroffenheit. Doch wir alle wissen: Es braucht mehr. Worauf warten wir?
Auch hier liefert die Literatur willkommene Hinweise. Die Geschichte des unersättlichen Bauern Pachom – diese brillante Parabel auf die Habsucht, dieses flammende Plädoyer für Genügsamkeit, diese gewaltige literarische Moralkeule – schrieb kein Geringerer als Leo N. Tolstoi, seines Zeichens Graf im russischen Zarenreich, reicher Grossgrundbesitzer und Herr über Hunderte von Leibeigenen.
Zwar war er sich seiner Privilegien und seiner sozialen Verantwortung bewusst. Er half in der Not, errichtete Schulen für die Ärmsten, setzte sich für Reformen ein, lehnte Gewalt ab, korrespondierte mit Mahatma Gandhi, verzichtete auf Fleisch, vermachte sein Werk testamentarisch dem russischen Volk – und fragte pathetisch: «Wie viel Erde braucht der Mensch?» Doch sein eigenes Landgut, das behielt er bis zu seinem Tod.»