Li­cht spü­ren

Chronobiologisch wirksames Licht

Erst wenn Licht auf unsere Augen trifft, können wir sehen. Doch unsere Augen steuern auch, wann wir wie wach und konzentriert sind. Unser Wohlbefinden hängt vom rechten Licht zur rechten Zeit ab. Das soll sich auch in Architektur und Planung niederschlagen.

Data di pubblicazione
25-08-2016
Revision
26-08-2016

Schon der grosse Architekt Louis Kahn wusste: «Wenn ich einen Plan sehe, der versucht, mir Räume ohne Licht zu verkaufen, verwerfe ich ihn einfach, ohne weiter über ihn nachzudenken, weil ich weiss, dass er falsch ist.» Tatsächlich ermöglicht uns (Tages-)Licht mehr als die rein visuelle Wahrnehmung. Mit den Auswirkungen des 24-stündigen Hell-Dunkel-Zyklus und den jahreszeitlich bedingten Änderungen der Tagesdauer auf Biochemie, Physiologie und das Verhalten lebender Organismen befasst sich die Chronobiologie, die Wissenschaft von den biologischen Rhythmen.

In den letzten 25 Jahren entwickelte sie sich zu einem bedeutenden Forschungsgebiet, was insbesondere auf die Entdeckung der Uhren­gene und einer neuen Fotorezeptorzelle im Auge zurückzuführen ist. Letztere hat einen spezifischen Einfluss auf das circadiane System. Der innere Rhythmus wird «circadian» genannt, da er lediglich «circa diem» ist, seine Periodizität also nur ungefähr, aber nicht exakt bei 24 Stunden liegt. Die innere Zeit muss in den äusseren 24-Stunden-Tag über sogenannte «Zeitgeber» mitgenommen werden. Der wichtigste Zeitgeber für Menschen ist das Licht.

1980 entdeckten Forscher, dass es eine Lichtstärke von mehr als 1000 Lux (vgl. Glossar) braucht, um das circadiane System des Menschen zu beeinflussen. Dieser Wert entspricht der Lichtstärke im Freien, wenn die Sonne über den Horizont steigt. 

Die biologische Uhr des Menschen 

Das circadiane Zeitmesssystem besteht aus einer Anzahl untereinander verknüpfter Elemente. Jeder Mensch verfügt in seinem Gehirn über eine biologische Uhr. Gewisse Hormone (wie das in der Zirbeldrüse hergestellte Melatonin) können einen Rückkopplungseffekt auf diese Hauptuhr haben.

Informationen aus der Umwelt werden über Fotorezeptoren in den Ganglienzellen übermittelt, die das Fotopigment Melanopsin enthalten. Letzteres ist äusserst empfindlich gegenüber dem kurzwelligen Ende des sichtbaren Lichtspektrums, dem blauen Licht. Diese Fotorezeptoren sind mit einem nichtvisuellen Trakt verbunden, der zum Nucleus supra­chiasmaticus führt, einem Kerngebiet im Hypothalamus, in dem die innere Hauptuhr angesiedelt ist.

Nichtvisuell bedeutet, dass hier Informationen über Beleuchtungsstärke und Lichtspektrum übermittelt werden – im Gegensatz zu den klassischen Fotorezeptoren Stäbchen und Zapfen, die mit dem Sehtrakt verbunden sind. Letzterer führt in Gehirnbereiche, die für die Wahrnehmung von Farben, Linien, Bewegung und Formen verantwortlich sind. Uhrengene sind ein wichtiger Bestimmungsfaktor unserer circadianen Rhythmik. Individuen unterscheiden sich stark voneinander, was zu Unterschieden im Schlaf-Wach-Zyklus oder zu sogenannten Chrono­typen führt (frühe Chronotypen = «Lerchen», späte Chrono­typen = «Eulen»).

Zusätzlich zu einem genetischen Bestimmungsfaktor ändert sich der Chronotyp im Lauf der Entwicklung.So sind Kinder eher Frühaufsteher, zu Beginn der Pubertät verschiebt sich ihr Schlaf-Wach-Zyklus aber zunehmend auf spätere Zeiten. Ab dem Ende der Adoleszenz kehrt sich diese entwicklungsmässig bedingte Verzögerung langsam um und führt schliesslich zum frühen morgendlichen Erwachen und frühen Zubettgehen älterer Menschen. Deswegen kann man auf Teenager und Bewohner von Pflegeheimen nicht dieselben Beleuchtungskriterien anwenden und darf nicht davon ausgehen, dass ein bestimmtes, zeitlich fixiertes Lichtprogramm auf Personen mit verschiedenen Chronotypen passt. 

Eindeutig hingegen sind die Ergebnisse bei der Untersuchung saisonaler und nichtsaisonaler Depression wie auch bei einer Reihe psychiatrischer und neurologischer Störungen. Sie zeigen, dass ein nach Intensität, Dauer und Zeitpunkt strukturiertes Licht­programm therapeutische Wirkung entfaltet. Um diese Krankheiten zu vermeiden, ist daher besonderes Augenmerk auf die tägliche Lichtexposition zu richten. Letztere ist als grundlegender Faktor für Gesundheit und Wohlbefinden zu betrachten. 

Umsetzung in die Praxis

Was aber bedeuten diese Erkenntnisse für Planung, Architektur und Innenarchitektur? Folgende Richt­linien können als Leitfaden dienen: 

  • Es kann sinnvoll sein, dass in Wohnungen und an Arbeitsplätzen zu gewissen Tageszeiten eine höhere Lichtintensität herrscht, ohne dass der visuelle Komfort beeinträchtigt wird. Dies ist jedoch nicht in allen Bereichen nötig (Energieverlust), sondern vor allem in der Nähe des menschlichen Auges. Unterschiedliche Chronotypen erfordern personalisierte Lichtprogramme. 
  • Spezifische Anforderungen verschiedener Altersgruppen müssen berücksichtigt werden. Jugend­lichen und jungen Erwachsenen kommt ein helles Morgenlicht so früh wie möglich nach dem Aufstehen (am Frühstückstisch) oder auch eine im Schlafzimmer simulierte Dämmerung zugute. Schulräume können in der ersten Stunde helle Beleuchtung brauchen. Im Gegensatz hierzu kann Abendlicht älteren Personen in ihrer bevorzugten Umgebung dabei helfen, vor dem Zubettgehen länger wach zu bleiben. 
  • Diese höhere Lichtintensität sollte so weit wie möglich durch die Verwendung von natürlichem Licht erreicht werden, da es im Vergleich zu künstlichem Licht stärkere Beleuchtung und zudem weitere Zeitgebersignale bietet: variierende Beleuchtungsgrade, Farbtemperatur (vgl. Glossar; Kasten unten) und Sonnenausrichtung im Tagesverlauf von morgens bis abends. Auch die verschiedenen Arten von Zwielicht entfalten eine biologische Wirkung und umfassen sieben Grös­senordnungen unterhalb des bei Sonnenaufgang herrschenden Lichts. 
  • Innenräume von Gebäuden sollten so gestaltet sein, dass sie die durch Lauf und Stand der Sonne bedingten Mitnahmesignale nicht behindern, indem beschattete Flächen minimiert werden und der Ausblick in die Ferne ermöglicht wird. 
  • Das verbreitetste Beispiel einer solchen Gestaltung ist die Ausrichtung von Schlafzimmern Richtung Osten, sodass die Lichtverhältnisse am Morgen auf den physiologischen Zeitpunkt des Erwachens abgestimmt sind. Es kann von Vorteil sein, dieses Prinzip auf andere Tätigkeiten anzuwenden, die regelmässig innerhalb von Gebäuden stattfinden. 
  • Fehlt ausreichend Tageslicht, sollte die künstliche Beleuchtung jene Prinzipien des natürlichen Lichts simulieren, die für die Chronobiologie relevant sind. 
  • Bei der Flächennutzung sollte die Stadtplanung das umfassende Erleben circadianer und saisonaler Rhythmen der natürlichen Umwelt ermöglichen. 
     

Künstliches Licht: nah am Original

Die Entdeckung des blauempfindlichen melanopsinhaltigen Fotorezeptors sowie Studien, die aufzeigen, dass monochromatisches Blaulicht am wirksamsten ist, um Melatonin zu unterdrücken, die Phasen circadianer Rhythmen zu verschieben sowie Wachsamkeit und Leistung zu steigern, haben dafür gesorgt, dass die Entwicklung von Beleuchtungssystemen mit hoher Farb­temperatur intensiv vorangetrieben wurde.

Indes ist das circadiane System nicht ganz so einfach und zu viel Blaulicht nicht immer positiv. Rotes Licht kann den Melanopsin-Fotorezeptor dahingehend sensibilisieren, die Melatoninunter­drückung und Phasenverschiebung zu verstärken. Demzufolge spielen die Zapfen, die bei Tageslicht der aktiven Sehfunktion dienen, auch eine Rolle. Zukünftige dynamische Beleuchtungssysteme sollten Licht in verschiedenen Farben für verschiedene Zwecke (erhöhte Wachsamkeit oder Hilfe beim Einschlafen) in bestimmter Abfolge und in verschiedenen Intensitäten erzeugen. 

Schon heute sind Gebäude mit zahlreichen Zeitmessgeräten und Sensoren ausgerüstet, die während des Tageszyklus verschiedene Parameter der inneren Umgebung justieren; die Temperaturregelung ist das beste Beispiel. In Zukunft könnten auch Fotosensoren Informationen über die aussen herrschenden Lichtverhältnisse liefern und das Kunstlicht im Inneren jeweils entsprechend adaptieren.

Ein weiterer wichtiger Punkt betrifft die Lichtverschmutzung: Künstliche Lichtquellen in privaten und öffentlichen Räumen sollten so konzipiert und platziert werden, dass sie die nächtliche Lichtverschmutzung gering halten, um in den städtischen Wohngebieten wie auch den Schlafräumen der Wohnungen angemessene Dunkelheit zu schaffen. Dunkelheit ist ein wichtiger Bestimmungsfaktor für circadiane Anpassung, genau wie der graduelle Übergang von ­Dunkelheit zum hellen Tag im Zwielicht (vgl. «Die Sonne ins Zimmer holen»).

Anmerkung

Dieser Abdruck ist eine gekürzte Version des Artikels. Das Original erschien erstmals in der Zeitschrift «World Health Design», Januar 2010, S. 44–49.


Glossar

Die Chronobiologie ist die Lehre von zeitlichen Zusammenhängen biologischer Prozesse.

Eine dynamische Beleuchtung verändert sich im Zeitablauf, zum Beispiel bei der Beleuchtungsstärke, der Lichtfarbe oder in der Lichtrichtung.

Eine circadiane Beleuchtung verändert ihre spektrale Zusammensetzung im Tagesverlauf analog zum Tageslicht.

Die Beleuchtungsstärke gibt den Lichtstrom an, der von einer Lichtquelle auf eine bestimmte Fläche trifft. Sie wird in Lux gemessen.

Die Farbtemperatur beschreibt die Lichtfarbe einer Lampe in Kelvin: <3300 K (warmweiss), 3300–5300 K (neutralweiss), >5300 K (tageslichtweiss)

Die Lichtstärke ist der Teil des Lichtstroms, der in einer bestimmte Richtung strahlt (Masseinheit: Candela)

Mit Lichtstrom bezeichnet man die Lichtleistung einer Lichtquelle, gemessen in Lumen. Sie beschreibt die Strahlung, die Lichtquellen in Form von sichtbarem Licht abgeben.

Melanopisch wirksame Beleuchtung regt die Produktion  von Melanopsin an; der Fotorezeptor im Auge, der die innere Uhr beeinflusst, wird aktiv.

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