Zwi­schen Wis­sen­schaft und Kun­st

Buchbesprechung

Gottfried Sempers Engagement für das «Komponieren» im Zeichensaal öffnete ein bis heute bestehendes Spannungsfeld am Architekturdepartement der ETH Zürich.

Data di pubblicazione
27-10-2016
Revision
03-11-2016

Eine Publikation über die Bauschule des Polytechnikums, ganz ohne Jubiläumsanlass? Das Interesse an der Geschichte seines Lehrgebiets hat den Autor Martin Tschanz, Architekt, Architekturhistoriker und -lehrer, zu einer umfassenden Recherche veranlasst. Entstanden ist eine so gehaltvolle wie lesenswerte Studie. Sie besticht durch klare Gliederung und wissenschaftliche Genauigkeit und ist dabei sprachlich souverän und lebendig geschrieben. Die erste Schweizer Bauschule, geleitet, gebaut und geprägt von Gottfried ­Semper (*1803), wird als Gegenstand der Kulturgeschichte dargestellt. 

Konstitution der Universität

Die Planung des Polytechnikums reicht zurück in das Jahr der Gründung des Bundesstaats 1848 (die endgültige Gründung erfolgte im Jahr 1855). Die Hochschule wurde «eines der wichtigsten Werke, in denen sich der neue Staat konkretisieren sollte». Entsprechend ging es in den Hochschuldebatten nicht allein um Bildungsthemen, sondern auch um die Frage nach dem Wesen der noch jungen Confoederatio Helve­tica. Historiker François Bergier spricht von einer der ersten Sorgen der neuen Bundesversammlung, mit dem Polytechnikum das «wissenschaftliche Instrument der Industrialisierung zu schaffen». 

In der Mitte des 19. Jahrhunderts stellten sich auf den Gebieten Naturwissenschaft, Technik und Architektur neue, auch bildungs- und ausbildungspolitische Anforderungen. Der besondere Charakter und die Struktur des Zürcher Polytechnikums, wie sie von den Vertretern des Bundes, der Kantone, der Konfessionen sowie einzelner Persönlichkeiten ausgehandelt wurden, seien eigentlich ein «Zwitter», der sich aber langfristig als produktiv erweisen sollte. Mit ihrem «grossen Angebot an der allgemeinen, überwiegend geisteswissenschaftlichen Abteilung», die noch heute existiert, sei die Zürcher Hochschule zum Vorbild für «die zweite Generation von Polytechniken» geworden.

Der Kern dazu wurde bei der Gründung und dem (vorläufigen) Zusammengehen mit der Universität gelegt. Man einigte sich auf eine Konstruktion des Sowohl-als-auch: ein Polytechnikum mit fünf technischen Fachschulen (Hoch-, Strassen-, Eisenbahn-, Wasser- und Brückenbau) und eine sechste Abteilung mit einem Angebot an philosophischen und staatswirtschaftlichen Fächern, um für externe Schüler und Universitätsstudenten grössere Durchlässigkeit zu bieten. 

Unter einem Dach

Erst mit der Fertigstellung des Neubaus 1863/64 wurden die damals noch über die Stadt verteilten Unterrichts- und Studienorte unter einem Dach, im Hochschulgebäude «auf dem Schienhut», vereint, das Gottfried Semper entwarf und zusammen mit Staatsbauinspektor Johann Caspar Wolff in den Jahren 1859–1864 errichtete. 

Das «Zusammengehen von Polytechnikum und Universität», schreibt Tschanz, wurde im Neubau von Gottfried Semper geradezu «inszeniert». Die besondere Bauaufgabe bestand nicht nur in den widersprüchlichen Forderungen nach einem einfachen Zweckbau und gleichzeitig nach einem repräsentativen Monumentalbau, sondern auch in der Organisation zweier Schultypen: Polytechnikum und Universität in einem Gebäude. 

Semper, vom «Bedürfnis» ausgehend, bezog sich nicht auf Vorbilder. Mit welchen architektonischen, plastischen und dekorativen Mitteln er das Programm in sprechende Architektur übersetzt, wo er Unterschiede betont und doch eine Einheit erreicht, wird in einer kunsthistorisch prägnanten Bauanalyse dargestellt, die Sempers durchdachtes Konzept von Architektur und Ausstattung anschaulich macht.

Im Mittelpunkt der Unter­suchung steht die anfangs mit neun Studenten und zwei Lehrenden noch kleine Bauschule, Vorläufer des heutigen Departements Architektur. Hier gilt das Interesse dem Studienkonzept, dem Unterrichtsstoff, den Lehr- und Lernbedingungen. Als erster Professor wurde Gottfried Semper, damals bereits ein renommierter Architekt und Architekturtheoretiker mit internatio­naler Wirkung, an die Schule berufen – auf Lebenszeit.

Unter den fünf polytechnischen Fachschulen war diejenige für den Hochbau, besonders im Hinblick auf den wachsenden Bedarf an Baufachleuten im Land, die wichtigste. Allerdings unterschied sich Sempers Auffassung von derjenigen des Schulrats in so wesentlichen Punkten wie denen des Ausbildungsziels und der Ausbildungsdauer. Zudem konnte er kaum Einfluss auf die Gestaltung des Studienreglements nehmen, und seine wiederholten Reformvorschläge wurden abgelehnt. Sie betrafen das Verhältnis von Grundlagenvorlesungen zu praktischer freier Arbeit, Zeichnen und Entwerfen («Komponieren») im Zeichensaal – Fragen, über die man sich in der Architektenausbildung auch heute nicht einig ist.

Das Reglement in Zürich, eher am Modell der 1825 gegründeten Technischen Hochschule von Karlsruhe orientiert, sah die Ausbildung von Baumeistern vor, die in der Regelstudienzeit von zwei Jahren kleinere Hochbauten errichten konnten. Es bestand die Möglichkeit, sich für das Entwerfen von Monumentalbauten in einem weiteren Jahr zu qualifizieren. Semper propagierte die Ausbildung zum Baukünstler, wie er sie im Atelier von Franz Christian Gau an der Pariser Ecole des Beaux-Arts kennengelernt hatte. Vergeblich setzte er sich für Flexibilität und Studienfreiheit im Sinn von Meisterkursen ein, schlug auch einen Sonderstatus für die Bauschule vor, wurde aber stattdessen zu mehr Disziplin und Kontrolle angehalten.

Zwei Auffassungen vom Architektenberuf – praktisch-technischer Fachmann und akademisch gebil­deter Baukünstler – standen sich gegenüber. Nicht zuletzt ging es dabei um die Stellung der Architektur. Sie musste im Zeitalter der Technik neu zwischen Ingenieuren und Baukünstlern ausgehandelt werden. Unzufrieden über seinen mangelnden Einfluss dachte Semper offenbar bald an Rücktritt, wie sein Freund Gottfried Keller 1857 notierte. Er verliess Zürich jedoch erst 1871, nach der Errichtung des Hochschulgebäudes und des Winterthurer Stadthauses, in Richtung Wien und Dresden, wo bedeutende Bauauf­träge auf ihn warteten. 

Wirkung auf seine Schüler

Mit grosser Sorgfalt und Sensibilität geht der Autor schliesslich den Spuren nach, die eine möglichst plausible nachträgliche Einschätzung von Sempers Zürcher Jahren und die Frage nach seiner Wirkung auf Schule und Schüler erlauben. Wurde mit Semper zweifellos einer der kompetentesten und erfahrensten Kandidaten auf den Gebieten der Theorie und Praxis der Architektur nach Zürich geholt, so konnte er als Lehrer seine hochgesteckten Ziele doch nicht umsetzen. Deshalb sieht ihn Tschanz, nicht ohne Ironie, als eine «grossartige Fehlbesetzung». «Grossartig», weil Sempers Name bis heute die Schule «adelt» und weil durch ihn das Spannungsverhältnis von Technik und Kunst Eingang in die Lehre fand.

Eine «Fehlbesetzung» dürfte er hingegen für den Schulrat gewesen sein, weil Semper nicht dessen Baumeisterprofil entsprach. Doch es besteht kein Zweifel, dass Sempers vorzeitiger Weggang in der Bauschule eine deutliche Lücke hinterliess: Ein Nachfolger konnte jahrelang nicht gefunden werden, und sein baugeschichtliches Lehrkonzept diente bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts als Grundlage.

Schwieriger, aber nicht weniger interessant gestaltet sich der Nachweis einer «stilistischen Prägung» seiner Schüler, weil mehrere Absolventen noch andere Hochschulen im Ausland besuchten, an denen sie weiteren Einflüssen ausgesetzt waren. Dessen ungeachtet ist Tschanz überzeugt: «Die Bauschule blieb noch lange über seine Abreise hinaus von ihm geprägt.» Mit seinem hohen Anspruch und seinen beharrlichen Reformbemühungen zur Optimierung des Architekturstudiums habe Semper dazu beigetragen, dass in Zürich eine Verbindung der Konzepte «altes Polytechnikum» und «Akademie» zu einem neuen Hochschultypus entstand. 

«Die Bauschule am Eidgenössischen Polytechnikum – Architekturlehre zur Zeit von Gottfried Semper» ist eine geist- und facettenreiche Darstellung der Anfänge der renommierten Architekturschule und ihres berühmten Architekten und Lehrers. Der dichte Ausschnitt aus der Kulturgeschichte verspricht für Architektur- und Geschichtsinteressierte zugleich Gewinn und Genuss. Geweckt wird darüber hin­aus der Wunsch nach einer Fortschreibung für das 20. Jahrhundert und sein ungleich komplexeres Architektenprofil.
 

Angaben zur Publikation


Martin Tschanz: Die Bauschule am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich. Architekturlehre zur Zeit von Gottfried Semper (1855–1871). gta Verlag, 2015, 340 S., 159 Abb., 16.5 × 24.5 cm, Klappenbroschur, ISBN 978-3-85676-343-5, Fr. 58.–


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