Zupacken statt abwarten
Mit dem Projekt «Die Schweiz 2050» erarbeitet der SIA eine Vision für einen qualitätsvollen Lebensraum. Der interdisziplinäre Ansatz ist ebenso aussergewöhnlich wie der aufgeschlossene Geist hinter dem Projekt: Die Zukunft ist nicht etwas, das in Prognosen angekündigt wird, sondern ein Ziel, das Planerinnen und Planer gestalten können – und sollen.
Vor zwei Jahren lancierte der SIA das Projekt «Die Schweiz 2050» mit dem Ziel, eine Vision für die Schweiz zu entwerfen und sich dafür einzusetzen, dass sie auch realisiert wird. Dafür hat er Eigenschaften definiert, die er für den zukünftigen Lebensraum Schweiz als wünschenswert erachtet. Neu sind diese nicht: eine hohe Lebensqualität, die nachhaltige Nutzung und Gestaltung der Landschaft und des Gebauten, Umweltschutz, effektive Energieversorgung und Mobilität. Dennoch ist das Projekt etwas Besonderes, sowohl in Bezug auf die Methode als auch auf die Grundhaltung, auf der es basiert.
Ganzheitlich und optimistisch
«Die Schweiz 2050» ist interdisziplinär angelegt und verfolgt einen integrierenden Ansatz. Es geht also nicht um die Lösung von einzelnen Aufgaben der Landschafts-, Infrastruktur-, Verkehrs-, Siedlungs- und Stadtplanung, sondern darum, die Zusammenhänge zwischen unterschiedlichen Faktoren und Akteuren zu nutzen. Das bedingt ganzheitliches statt sektorielles Denken – in einer Zeit der Spezialisierung ein geradezu extravaganter Anspruch. Anstatt komplexe Themen in isolierte Teilfragen zu zergliedern und an Spezialisten zu verteilen, die unabhängig voneinander arbeiten und schwer kompatible Ergebnisse produzieren, soll vorerst eine gemeinsame Vision entwickelt werden. Erst dann, mit diesem verbindenden Ziel, sollen sich die verschiedenen Disziplinen an die Lösung ihrer spezifischen Aufgaben machen. Dies betrifft die ganze Bandbreite des Planens und Bauens, gefordert sind aber auch die Geistes- und Sozialwissenschaften.
Vor allem aber hebt sich der Vorsatz, eine Vision zu entwickeln, erfrischend vom Vorgehen der Zukunftsforschung ab. Eine Vision kann sich komplett von der Realität lösen; Prognosen dagegen, wie sie die Zukunftsforschung liefert, leiten sich von einem realen Ausgangspunkt ab. Die Zukunftsforschung analysiert in erster Linie die Vergangenheit und die Gegenwart, um bestehende Entwicklungen zu identifizieren; anschliessend extrapoliert sie diese mit diversen Rechenmodellen, um vorhersagen zu können, welche Folgen zu erwarten sind. In anderen Worten: Die Zukunftsforschung untersucht bereits angebahnte Wege, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wohin sie führen. Sie eruiert die Wahrscheinlichkeit verschiedener Szenarien, auf die sich die Menschen bestmöglich einstellen sollen. Dahinter steckt die etwas resignative, fatalistische Überzeugung, man könne zwar auf die Zukunft reagieren, sie aber kaum aktiv gestalten.
Das Projekt «Die Schweiz 2050» dagegen atmet einen anderen, optimistischeren Geist – und geht genau umgekehrt vor: Man will gemeinsam ein Idealbild des Lebensraums entwerfen und erst dann untersuchen, wie aktuelle Entwicklungen gesteuert werden können, um es zu verwirklichen. Die Zukunft soll nicht hingenommen, sondern lustvoll entworfen und aktiv gestaltet werden. Oder, um die Analogie wieder aufzugreifen: Man legt ein Ziel fest und sucht anschliessend nach geeigneten Wegen, um es zu erreichen.
Planungsfachleute erheben die Stimme
Den Auftrag für dieses Projekt hat sich der SIA selbst erteilt. Dahinter steckt die Überzeugung, dass er als interdisziplinärer, normengebender Verband von Baufachleuten die Kompetenz, die Verantwortung und die zivilgesellschaftliche Verpflichtung hat, eine öffentliche Diskussion über die Zukunft der Schweiz anzuregen (vgl. «Bauen für die Welt von morgen»). In letzter Konsequenz ist das ein Aufruf an alle Baufachleute, jenseits des Berufsalltags und der konkreten Aufträge darüber nachzudenken, welchem übergeordneten Ziel die eigene Tätigkeit zu dienen habe.
Wie der Lebensraum Schweiz im Jahr 2050 tatsächlich beschaffen sein wird, können wir nur bedingt beeinflussen. Globale Entwicklungen wie der Klimawandel oder die Bevölkerungsexplosion werden viel tiefer greifende Konsequenzen haben als lokale Planungen (vgl. «Es ist fünf vor zwölf»). Umso wichtiger ist, dass die Schweiz ihre privilegierte Lage nutzt, um ihren – wenn auch bescheidenen – Handlungsspielraum optimal zu nutzen. Denn die Schweiz kann es sich leisten, nachhaltige Planungsansätze zu erproben und umzusetzen, woraus sich wiederum neue Perspektiven in einem viel grösseren Massstab ergeben könnten.
Den Papiertiger zum Leben erwecken
Noch steckt dieses mutige, für die besonnene Schweiz untypische Projekt in den Anfängen. Doch dass es überhaupt in dieser Art konzipiert wird, deutet darauf hin, dass die Planerbranche sich eine neue Freiheit des Denkens und eine stärkere politische Präsenz erkämpfen will. Das ist eine gute Nachricht.
Nun gilt es, die Absichtserklärung in Taten umzusetzen. Erste Ergebnisse aus der Initialphase liegen vor und wurden teilweise publiziert (vgl. Kasten unten). Gespräche mit Fachstellen und Behörden haben stattgefunden und sollen in wechselnden Konstellationen weitergeführt werden (vgl. «Der Hürdenlauf der nächsten 33 Jahre»). Weitere Partner werden ins Projekt einbezogen. Wünschenswert wären aber auch offene Calls for Ideas, Hearings in verschiedenen Regionen und Workshops mit lokalen Entscheidungsträgern.
Vor allem aber braucht es eine breit abgestützte, offene Diskussion – unter Planungsfachleuten und in weiten Teilen der Gesellschaft. Denn wenn die erarbeitete Vision nicht wie Tausende früherer Ideen, Gutachten, Testplanungen und Expertenberichte in einer Schublade verschwinden, sondern die Planungspolitik der Schweiz verändern soll, dann muss sich die Öffentlichkeit damit identifizieren können. Die Vision muss gesellschaftliche Relevanz bekommen und jene politische Reife erreichen, die es braucht, damit das Stimmvolk darüber befindet. Erst dann wird es gelingen, die Kompetenz der SIA-Fachleute und der Projektpartner in der Realpolitik zu verankern.
Die Schweiz 2050 – ein Projekt des SIA 2015–2020
Wie sollen das Bauwerk und der Lebensraum Schweiz in der Jahrhundertmitte beschaffen sein? Unter Einbezug aller seiner Berufsgruppen will der SIA eine ganzheitliche Raumstrategie definieren, die als Grundlage für die Weiterentwicklung dient und im Sinn des Standortvorteils einen Beitrag zur Planungs- und Baukultur leistet.
Vorbereitungsphase 2014–2015
– Roadmap Peter Matt und Fritz Hunkeler
– Letter of Intent zwischen SIA und ETHZ (D-ARCH)
– Vorgehenskonzept Initialphase
Initialphase 2015–2016
Anschubfinanzierung des SIA und Start der drei ersten Module:
– ETH Zürich Urban Think Tank (U-TT) und Laboratory for Energy Conversion (LEC): «Swiss AIM», Fallstudie Aarau-Olten
– ETH Studio Basel: «Urbanisierung der Schweiz», Fallstudie Metrobasel
– BGU Berufsgruppe Umwelt des SIA: Erarbeitung eines thematischen Moduls «Landschaft»
Ergebnisse dieser drei ersten Module wurden 2016 SIA-intern vorgestellt und teilweise auf den SIA-Seiten von TEC21 14/2016, 17/2016 und 20/2016 veröffentlicht.
Projektphase 2016–2020
Start Einbezug weiterer Partner, Fallstudien und Module
SIA (Projektleitung)
– Ariane Widmer Pham, Präsidentin des Lenkungsausschusses, Mitglied des Vorstands
– Hans-Georg Bächtold, Geschäftsführer
– Andreas Loscher, Projektverantwortlicher
ETH Zürich (Forschungspartner)
– Urban Think Tank (U-TT) | www.u-tt.com, Prof. Alfredo Brillembourg, Prof. Hubert Klumpner (Swiss AIM)
– Laboratory for Energy Conversion (LEC) | www.lec.ethz.ch, Prof. Dr. Reza Abhari (LEC, Swiss AIM)
– Institut Stadt der Gegenwart (CCI), Studio Basel | www.studio-basel.com, Prof. Jacques Herzog, Prof. Pierre de Meuron