Die Ce­ne­ri­den – ein neuar­ti­ger Ge­birg­sty­pus

Im schweizerischen Untergrund versteckt sich ein uraltes Gebirge. Seine Erforschung führt zu neuen Theorien der Gebirgsbildung.

Data di pubblicazione
11-03-2021

Die Schweiz ist das Land der Alpen. Im Kern befinden sich die höchsten Berge. Sie bestehen aus Graniten und Gneisen. Ihnen vorgelagert sind Bergzüge, in denen Kalkgesteine dominieren. Sie wurden während der Bildung der Alpen verfaltet und überschoben. Die jüngsten Überschiebungen erfassten auch die Sandsteinablagerungen des Mittellands. Später überzogen die eis­zeitlichen Gletscher die Alpen und hinterliessen im Mittelland ausgedehnte Schotterfelder mit zahlreichen Seen.

Das Sichtbare täuscht

Schaut man sich eine geologische Karte der Schweiz an, so machen die eiszeitlichen Seen- und Schotterlandschaften zusammen mit den Sandsteinen des Mittellands etwa 33 % der Fläche aus. 37 % sind durch Kalkgesteine und Schiefer bedeckt, und bei den restlichen 30 % reichen Granite und Gneise des Grundgebirges an die Erdoberfläche.

Betrachtet man aber den geologischen Untergrund der Schweiz bis in eine Tiefe von 40 bis 50 km, dann verschieben sich die Mengenverhältnisse markant zugunsten der Gneise und Granite mit grob geschätzten Anteilen von etwa 60 und 20 % (Abb. 1). Die an der Oberfläche so bedeutsamen, aber lediglich bis in wenige Kilometer Tiefe reichenden Gesteine machen also nur etwa 20 % des ganzen Gesteinsvolumens aus.

Streit um die Entstehung

Die meisten Granite entstanden während der variszischen Gebirgsbildung vor 300 bis 360 Mil­lionen Jahren. Der anteilsmässig grösste und bekannteste unter ihnen ist der Aare-Granit. Die Granite entstanden aus flüssigen Magmen, die aus der Tiefe emporstiegen, in noch ältere Gneise eindrangen und dort erstarrten. Diese Gneise (Amphibolite, Para- und Orthogneise; Abb. 1) sind also noch älter als die variszische Gebirgsbildung. Sie sind vor 440 bis 540 Millionen Jahren entstanden. So weit sind sich die Geologen heute einig.

Über die Art dieser Gebirgsbildung streiten sich die Forscher jedoch auf der ganzen Welt! Denn gleichaltrige Gneisverbände gibt es in ganz Mittel- und Südeuropa, in der Türkei, in Asien und Australien, in der Antarktis und in Südamerika. Alle diese Regionen befanden sich zur Zeit ihrer Entstehung am Rand eines grossen Kontinents und haben eine gemeinsame Geschichte.

Gebirgsbildung nicht mehr beobachtbar

Gemäss den langjährigen Forschungsarbeiten des Autors entstanden die Gneise durch eine Art der Gebirgsbildung, die heute auf der ganzen Erde nirgends mehr beobachtet werden kann. Das gestaltete die Forschungsarbeiten besonders umständlich, weil man keinen direkten Vergleich zu heutigen, gut untersuchten Gebirgen wie den Alpen, dem Himalaya oder den Anden ziehen konnte.

Er benannte die Gebirgsbildung mit dem neuen Begriff «Cenerian». Die «cenerische Gebirgsbildung» ist nach den Gesteinen auf dem Ceneri-Pass im Tessin benannt. Denn dort im Seengebirge der Südalpen ist die junge Alpenbildung schwächer ausgeprägt als im Zentrum der Alpen. Deswegen lassen sich dort die älteren Strukturen der «Ceneriden» besser beobachten und untersuchen. Übrigens, der Ceneri-­Basistunnel führt nun mitten durch die Ceneriden hindurch.

Die cenerische ­Gebirgsbildung

Die Ceneriden waren ein mindestens 2500 km langer und 440 bis 540 Millionen Jahre alter vulkanischer Gürtel am nördlichen Rand des Superkontinents Gondwana (Abb. 2). Der hohe Aluminiumgehalt dieser Vulkangesteine deutet darauf hin, dass sie durch das Aufschmelzen von Sedimentgesteinen in ungefähr 30 km Tiefe entstanden sind. Sedimentgesteine entstehen durch das Ablagern von Schlamm, der mit zunehmender Tiefe entwässert und sich zu Schiefer und Paragneis umwandelt.

Die riesigen Mengen an Vulkangesteinen (inklusive den dazugehörenden Graniten, die in der Tiefe stecken blieben) deuten darauf hin, dass eine ca. 5 km mächtige Serie von Sedimentgesteinen aufschmolz. Die dafür nötige Wärme wurde durch heisse Schmelzen geliefert, die aus noch grösseren Tiefen hochstiegen (Abb. 3a).

Abtauchen unter Schlamm

Die Ursache für diese heis­sen Schmelzen, so die Theorie, war eine Subduktionszone, also eine abtauchende ozeanische Platte. Sie tauchte aber nicht unter einen Kontinent ab wie heute beispielsweise die pazifische Platte unter Südamerika (Abb. 3b), denn die Vulkangesteine der Anden sind grösstenteils aluminiumarm und damit anders geartet.

Die cenerische Subduktion war ein Abtauchen der Platte des keltischen Ozeans unter einen «Schlammhaufen», einen sogenannten Akkretionskomplex (Abb. 3a). Ein Akkretionskomplex (oder ein kleinerer Akkretionskeil, Abb. 3b) entsteht durch eine Anhäufung von Schlamm, der zuerst auf der ozeanischen Platte abgelagert und dann beim Abtauchen der Ozeanplatte von dieser abgeschabt wurde. Wenn diese Abschabung über mehrere Mil­lionen Jahre anhält, so entsteht ein Akkretionskeil, wie man es heutzutage vielerorts rund um den Pazifik beobachten kann.

Dauert die Abschabung aber noch länger (100 Millionen Jahre), während der Schlamm­eintrag durch Flüsse und Gletscher besonders hoch ist, so entstehen riesige Akkretionskomplexe, so wie vor 540 Millionen Jahren am Nordrand von Gondwana (Abb. 3a).

Aluminium en masse

Diese Akkretionskomplexe bestanden zu über 90 % aus aluminiumreichen Schlämmen (Sedimenten), die durch das Abschaben, An- und Hin­un­ter­drücken zunehmend entwässert und zu Schiefern und Paragneisen umgewandelt wurden. Die heissen Schmelzen der cenerischen Subduktion drangen in die aluminiumreichen «Schlammgesteine» (der Geologe spricht von Sedimentgesteinen) des Akkretionskomplexes ein und brachten diese zum Schmelzen. So entstanden aluminiumreiche Magmen, die weiter aufstiegen. Blieben sie unterwegs stecken, so bildeten sich aluminiumreiche Granite, die zu Orthogneisen deformiert wurden. Erreichten sie die Erdoberfläche, so traten sie dort als aluminiumreiche Vulkangesteine aus (Abb. 3a).

Für den Geologen gibt es noch weitere Hinweise, die für ein solches Szenario sprechen:

  1. die Art der Sedimentgesteine und deren Umwandlung zu Paragneisen,
  2. die Deformation und Orientierung der cenerischen Orthogneise und
  3. die Amphibolite mit Relikten einer Umwandlung in grossen Tiefen, um damit auch die drei wichtigsten Gesteinsarten der Ceneriden zu nennen (Abb. 1).

Mehr Schlamm von gigantischen Gebirgszügen

Es ist natürlich zu fragen, wieso es nur im frühen Erdaltertum, vor 440 bis 540 Millionen Jahren, solch grosse Akkretionskomplexe (Abb. 3a) mit einem aluminiumreichen Vulkanismus gegeben haben soll. Der Grund ist, dass der Eintrag von Flussablagerungen in die heute aktiven Subduktionszonen viel zu gering ist, sodass sich nur kleine Akkretionskeile bilden können, wie in Abb. 3b dargestellt.

Weiter ist zu fragen, woher die schier unendlichen Mengen an Ablagerungsgesteinen (Sedimenten) kamen, die zur Ausbildung eines solch gigantischen Akkretionskomplexes geführt haben. Gemäss den heute bekannten Plattenrekonstruktionen müssen sie aus dem Innern von Gondwana gekommen sein, und zwar aus dem Netzwerk der sogenannten panafrikanischen Gebirgszüge, die damals Gondwana kreuz und quer durchzogen (Abb. 2).

Diese entstanden noch früher, im Zeitraum zwischen 800 und 540 Millionen Jahren durch die Kollision aller südlichen Kontinente. Die Gesamtlänge der panafrikanischen Gebirge lag in der Grössenordnung von 50 bis 100 Alpengebirgen! Das erklärt die gewaltigen Mengen an Abtragungsschutt, die von diesen Gebirgen mittels Gletschern und Flüssen an die Küsten transportiert wurden. Im Norden von Gondwana lieferten sie den Rohstoff für den cenerischen Akkretionskomplex.

Explodierende Vielfalt

Weil in Akkretionskomplexen der Abtragungsschutt älterer Gebirge wieder in neue Gebirge umgewandelt wird, ist das frühe Erdaltertum das Erdzeitalter des Recyc­lings. Es ist übrigens auch die erdgeschichtliche Epoche, in der die biologische Artenvielfalt regelrecht explodierte. Besonders spannend ist, dass es einen Zusammenhang zwischen dieser Evolutionsphase und den ausgedehnten Flachwasserre­gionen über den cenerischen Akkretionskomplexen zu geben scheint. So konnten nämlich mehrere Forschungsgruppen1 zeigen, dass diese riesigen Flachwasserregionen ideale Brutstätten waren, die der Entstehung neuer Arten einen explosionsartigen Schub verliehen.

Mittels des neuen Modells der cenerischen Gebirgsbildung können also sämtliche Gesteine und Strukturen, wie sie der Geologe im Grundgebirge der Alpen antrifft, konsistent erklärt werden. Die cenerische Gebirgsbildung ist in zweierlei Hinsicht auch für eine breitere Leserschaft von Interesse. Einerseits begünstigte sie die Entstehung der meisten Tierstämme in der frühen Evolution der mehrzelligen Lebewesen, und anderseits bilden die Ceneriden den felsenfesten Untergrund, auf dem wir heute leben.

Anmerkung

1 z. B. Miller & Mao 1995, Servais et al. 2009

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