«Pla­ne­rin­nen und Pla­ner ha­ben es in der Hand»

Zehn Jahre lang war der Architekt Stefan Cadosch SIA-Präsident. Im Gespräch rekapituliert er die Entwicklungen dieser bewegten Dekade und blickt optimistisch nach vorn: Planerinnen und ­Planer haben es in der Hand, unser aller Leben zu verbessern.

Data di pubblicazione
23-04-2021


TEC21: Herr Cadosch, inwiefern hat sich die Rolle des SIA als Berufsverband in den letzten zehn Jahren gewandelt?

Stefan Cadosch: Ich sehe zwei wichtige Entwicklungen. Erstens ist der SIA politischer geworden. Das ist richtig so: Es gibt viele Themen in der Politik, die unsere Branche betreffen. Umgekehrt können wir als Baufachleute wertvolle Inputs zu diesen Themen liefern. Die Politik erwartet das auch von uns. Als wir zum ersten Mal in Bern waren, um auf Bundesebene mit Politikerinnen und Politikern über Raum­planung und Baukultur zu dis­kutieren, sagten sie über alle Parteigrenzen hinweg: Endlich kommt ihr! Sie wissen, wer der SIA ist; und wenn der SIA ein Argument einbringt, hat er eine hohe Glaubwürdigkeit. Das liegt an der Fachkompetenz des Vereins und sicher auch an seiner langen Geschichte. Wir prägen das Schweizer Baugeschehen seit bald 200 Jahren, lassen uns nicht in ein Links-Rechts-Schema pressen, bringen lösungsorientierte Vorschläge, jagen keine Subventionen. Dieses politische Kapital beginnt der SIA zu nutzen.


TEC21: Und die zweite Entwicklung?

Stefan Cadosch: Zweitens arbeitet der SIA enger mit anderen Verbänden zusammen. Vor zehn Jahren waren die Verbände sehr autonom, traten nur für sich selbst auf. Damals träumte man davon, einen Dachverband aller Planerberufe zu gründen. Heute sind die Herausforderungen komplexer, und es braucht breite Allianzen, um sich politisch Gehör zu verschaffen. Darum engagiert sich der SIA in bauenschweiz, dem Dachverband der Schweizer Bauwirtschaft mit rund 70 Mitgliedverbänden aus Planung, Bau, Produktion und Handel. Bauen ist ein Gemeinschaftswerk. Das ist seit der Antike so – das Bild des grossen Denkers, der ganz allein alles plant, was die anderen dann ausführen, ist längst vorbei. Alle müssen mitdenken. Übrigens ist es heute einfacher, Allianzen zu schmieden: Die alten Verbands­diktatoren, leidenschaftliche Persönlichkeiten, die sich gegenseitig bekämpften, gibt es kaum noch. Alle sind konzilianter, weil ihnen bewusst ist, es braucht eine Zusammenarbeit.


TEC21: Hat sich der SIA selbst in der letzten Dekade auch verändert?

Stefan Cadosch: Der SIA ist weiblicher geworden. Das ist zwar ein grosses Wort für einen Verband, in dem der Frauenanteil – gemessen an Ausbildung und Praxis – noch vergleichsweise tief ist, aber wir haben doch an Kontur gewonnen, unter anderem auch dank dem Netzwerk «Frau und SIA». Der SIA-Vorstand besteht je zur Hälfte aus Frauen und Männern, auch in der Geschäftsleitung und in den Gremien ist der Frauenanteil gestiegen. Natürlich bleibt viel zu tun. Gelebte Gleichstellung muss gepflegt werden; wenn man denkt, das Thema sei abgehakt, fällt man in alte Muster zurück, wie man das leider vielerorts sieht.


TEC21: Haben sich auch die Erwartungen der Mitglieder gewandelt?

Stefan Cadosch: Ja. Einerseits ist der SIA wie praktisch alle Vereine damit konfrontiert, dass immer weniger Menschen bereit sind, in Miliz mitzuarbeiten. Auf der anderen Seite erwarten die Mitglieder, dass der SIA auf die Barrikaden geht und sich auf politischer Ebene für ihre beruflichen Anliegen einsetzt.


TEC21: Welche Anliegen sind das?

Stefan Cadosch: Ein Problem ist die steigende Regulierungsdichte. Eine funktionierende Demokratie ist eine Gesetzschöpfungsmaschine: Jeder Parlamentarier, jede Parlamentarierin profiliert sich mit neuen Gesetzen, abgeschafft wird kaum je eines. Die Folge ist, Planer und Planerinnen müssen sich mit immer mehr Auflagen, Forderungen und Aufgaben herumschlagen. Das ist einer der Gründe, warum sich die Honorarsituation trotz Hochkonjunktur nicht entspannt, sondern verschlechtert hat. Eine normale Baueingabe ist heute so komplex, dass sie x-fach mehr Aufwand erfordert als noch vor zwei, drei Jahrzehnten – bei gleichbleibendem Honorar. Der SIA muss helfen, die Prozesse zu entschlacken. Weiter erwarten die Mit­glieder zu Recht, dass der SIA für eine faire Honorierung von Planerleistungen kämpft.


TEC21: Und was erwarten Sie persönlich vom SIA?

Stefan Cadosch: Auch meine Erwartungen haben sich gewandelt. Ich fand immer, der SIA sollte weniger träg sein, darum habe ich mich damals für das Präsidium beworben. Heute kenne ich die unglaubliche Breite an Themen, die der SIA bewirtschaftet. Meine Erwartungen sind realistischer geworden. Was kann man wirklich erreichen und wie? Zum Beispiel die Honorare: Der SIA muss für faire Honorare kämpfen, ganz klar. Doch als das Sekretariat der Eidgenössischen Wettbewerbskommission Weko 2018 die Vermutung äusserte, die Honorarempfehlungen des SIA könnten eine unzulässige Wettbewerbsabrede enthalten, hatten wir keine Möglichkeit, uns auf juristischem Weg zu wehren. Es war erschreckend festzustellen, wie schnell man mit einem Fuss im Gefängnis ist, wenn man als Verband faire Honorare fordert: Man steht sofort im Verdacht, gegen das Kartellrecht zu verstossen, und dieser schiere Verdacht ist schon eine existenzielle Gefahr, weil das Prinzip der Unschuldsvermutung hier nicht gilt. Die Beweislast ist umgekehrt: Man gilt als schuldig und wird massiv gebüsst, bis man seine Unschuld bewiesen hat. Deshalb mussten wir die Aufwandsschätzung aus den Leistungs- und Honorarordnungen LHO entfernen.


TEC21: Der SIA als Feind des freien ­Wettbewerbs?

Stefan Cadosch: Eigentlich ist es absurd. Die Weko sieht sich als Hüterin des Gesamtwettbewerbs im wirtschaftlichen Sinn, so wie der SIA sich als Hüter des Planer­wettbewerbs sieht. Dabei geht die Weko davon aus, dass alle versuchen, das System zu dehnen und zu übertreten. In der heutigen Zeit erscheint mir diese Haltung befremdlich und vor allem sehr kurzsichtig: Es ist offensichtlich, dass zu tiefe Honorare dem Wettbewerb schaden, weil die Nachwuchskette langfristig beschädigt wird. Wenn das anhält, wird sich die Weko als Hüterin des Wett­bewerbs bald darum kümmern müssen, dass der Markt nicht aufgrund der tiefen Honorare völlig zugrunde geht!


TEC21: Die Planerbranche ist stark unter Druck geraten: sinkende Honorare, die Intervention der Weko, ­forcierte Digitalisierung, Corona … Trotzdem empfinden Sie Ihren Beruf als sinnstiftend.

Stefan Cadosch: Es ist einer der schönsten Berufe der Welt! Jede Idee wird zur physischen Präsenz und kann direkt überprüft werden: Was wir bauen, steht im Idealfall 100 Jahre, und wir sehen alles, den Erfolg und die Fehler, täglich. Diese schonungslose Auseinandersetzung mit kreativen Prozessen ist unglaublich bereichernd. Es ist auch ein kommunikativer Beruf; um eine Idee zum Abschluss zu bringen, braucht es Auftraggeber, Mitstreiterinnen, Ausführende, und alle müssen an die Idee glauben, sonst fehlt die Leidenschaft. Und nicht zuletzt ist es ein Beruf, in dem man einen gesellschaftlichen Beitrag leisten kann; Gerade in der Krise zeigt sich, wie eminent wichtig gute Infrastrukturen sind. Wenn ich sehe, ein Bau funktioniert wie geplant und die Menschen nehmen ihn an, ist das ungeheuer befriedigend.


TEC21: Sie führen ein mittelgrosses Büro, das Leistungen in Planung und Ausführung anbietet. Damit vertreten Sie den «klassischen» Schweizer Architekten, der Entwurf, Konstruktion und Ausführung als Gesamtaufgabe versteht. Welche Zukunft hat dieses Modell?

Stefan Cadosch: Das Schreckgespenst des Architekten, der nur noch als Dekorateur tätig ist, während andere die Entscheidungen treffen und die Prozesse steuern, geistert natürlich herum, insbesondere im angelsächsischen Raum ist es sehr präsent. Das Selbstverständnis des Designer-Architekten ist auch bei uns angekommen. Viele Büros begnügen sich damit und verzichten auf die Hälfte des Honorars, weil sie die Ausführung extern vergeben. Ich lebe das klassische Modell, aber ich halte es nicht für die einzige gute Lösung. Andererseits bestehen viele renommierte Büros auf ihre Ausführungskompetenz, nicht nur in der Schweiz, auch international. Schweizer Architektinnen und Architekten gelten als detailversessen, aber sie sind nicht die einzigen. Es gibt sie noch, die emotionalen Baukünstler und Baukünstlerinnen, die das Gesamtwerk vor Augen haben und alles selbst beeinflussen wollen. Sie sind nicht die Mehrheit, aber sie sind überall. Die Digitalisierung steht diesem Anspruch meiner Meinung nach nicht ent­gegen. Im Gegenteil: Richtig ein­gesetzt, können digitale Tools eine ganzheitliche Sicht fördern. Weil sich die Planungs- und Bauphasen überlappen und manche Ent­scheidungen früher im Prozess statt­finden, eröffnen sich neue Möglichkeiten, die Kompetenz der Ausführenden einzubeziehen. Natürlich gibt es ungelöste Fragen, Skepsis ist durchaus angebracht, aber grundsätzlich halte ich die Digitalisierung für eine Chance.


TEC21: Wird sich der Markt in Zukunft so weit differenzieren, dass ein hoher baukultureller Anspruch zum Luxusgut wird, anstatt sich breiter durchzusetzen?

Stefan Cadosch: Der Markt war schon immer differenziert. Anspruchsvolle Architektur und Ingenieurbaukunst hat nie mehr als vielleicht 10 % aller Bauten ausgemacht. Was wir heute an der mittelalter­lichen Stadt bewundern, ist ein Bruchteil dessen, was im Mittel­alter tatsächlich dort stand; das meiste waren Bretterbuden, die man irgendwann weggeräumt hat. Hohe Baukultur war immer ein Nischenprodukt. So gibt es auch heute durchschnittliche Gebäude und Infrastrukturen, die nur Grundbedürfnisse befriedigen, ordentlich gebaut, aber nicht mehr. Im fachlichen Diskurs – und in der Fachpresse – sprechen wir kaum davon, weil wir Planerinnen und Planer uns für das Herausragende interessieren. Es beflügelt uns, wir wollen daraus lernen, Wettbewerbe gewinnen und auch zu den Besten gehören. Im Übrigen sind wir mit diesem baukulturellen Anspruch nicht allein. Aufmerk­same Laien sind durchaus in der Lage, Qualität zu erkennen und zu würdigen. Dies gilt auch für die Bauherrschaften: Es gibt sie sehr wohl, die anspruchsvollen Auftraggeber, die höchste Qualität einfordern.


TEC21: Wer sind diese Bauherrschaften?

Stefan Cadosch: Früher stand die Bau­kultur im Dienst religiöser und politischer Macht. Das galt für die Architektur, aber auch für die Ingenieurbaukunst: Infrastrukturbauten wie Brücken und Kraftwerke können sich auf die reine Zweckerfüllung beschränken, aber auch eine hohe ästhe­tische Qualität haben und grosse Symbolkraft entfalten. Heute erstellen auch multinationale Konzerne und andere Player aus der Privatwirtschaft herausragende Bauten. Dabei stellt sich die Frage nach der Angemessenheit: Welche Werte verkörpern diese Bauten? Wie stark darf eine private Organisation, und wenn sie noch so staatstragend ist, den öffentlichen Raum dominieren? Diese Diskussion wird etwa in Bezug auf die Roche-Türme in Basel geführt, aber sie ist all­gegenwärtig. Manchen Prestige­bauten haftet etwas vom Turmbau zu Babel an: Man hat den Ehrgeiz, Zeichen zu setzen, doch nach oben wird die Luft dünn, und die Gefahr des grandiosen Scheiterns ist immens.

Auch wir Planerinnen und Planer sind ehrgeizig; doch selbst den Besten von uns gelingt nicht alles. In unserer individualistischen Gesellschaft ist ein kritischer Diskurs nötig. Leider ist es in unseren Kreisen verpönt, das Werk von Kolleginnen und Kollegen öffentlich zu kritisieren. Stattdessen tut man es hinter vorgehaltener Hand, was uns nicht weiterbringt. Es braucht offene Kritik. Dabei müssen wir uns bewusst sein, dass wir auch als Szene unisono irren können. Ein Beispiel ist der Eiffelturm: Er sollte nach der Weltausstellung von 1889 wieder entfernt werden, weil man fand, er verschandle die Stadt. Doch mit der Zeit wurde der angebliche Fluch zur Ikone, und genauso kann auch eine Ikone zum Fluch werden.


TEC21: Welche Rolle spielen Berufsverbände in dieser Auseinandersetzung?

Stefan Cadosch: Meine Erfahrung ist, dass Verbände grundsätzlich – und das ist auch das Erfolgsrezept des SIA – unabhängig von den einzelnen Beteiligten vom Glauben motiviert sind, einen Beitrag für die Allgemeinheit zu leisten. Dass man mehr oder weniger ehrenamtlich arbeitet, gehört dazu. Darum mein Appell: Planerinnen und Planer, engagiert euch für etwas, das allen dient! John F. Kennedy hat gesagt: «Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt, was ihr für euer Land tun könnt.» Ist es ein Wohlstandsphänomen, dass wir so auf den eigenen Nutzen fokussiert sind? Auch in einer individualistischen Gesellschaft müssen wir gemeinsame Werte erkennen und uns dafür einsetzen. Das ist eine der Lehren, die uns die Pandemie beschert hat. Eine zweite ist: Wir haben Kapazität dafür, wenn wir Ballast abwerfen. Das erzwungene Innehalten hat gezeigt, wie viel Überflüssiges wir sonst tun. Jetzt haben wir die Chance, eine Triage zu machen und uns auf Dinge zu konzentrieren, die wirklich zählen. Ich weiss, das ist ein sehr optimistisches Bild, geradezu sozioromantisch, aber gemeinsame Werte sind doch die wichtigste Antriebsfeder der Menschheit. Hier schliesst sich auch der Bogen zu unseren Berufen: Planerinnen und Planer haben es in der Hand, unser Leben konkret zu verbessern.

An der Delegiertenversammlung vom 23. April 2021 verlieh der SIA Stefan Cadosch die Ehrenmitgliedschaft für seine ausserordentlichen Verdienste.

 

Die Würdigung lesen Sie hier.

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