Spiel­stei­ne im Dienst der Kon­struk­ti­on

Die Lego-Gruppe feiert heuer ihr 90-jähriges Bestehen. Diese relativ kurze Zeitspanne reichte, um aus einem kleinen Handwerksbetrieb im dänischen Billund eine Weltmarke zu formen und eine wechselseitige Beziehung mit der Planungs- und Bauwelt aufzubauen und zu pflegen.

Publikationsdatum
06-10-2022

Lassen wir für einmal kurz den Ernst des Alltags beiseite, begeben wir uns ins Spiel­universum von Lego und bestaunen wir einige verblüffende Fakten, die Wissenschaftsmagazine und «Brickipedians» weltweit zusammengetragen oder die gar Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde gefunden haben.

Hätten Sie zum Beispiel gewusst, dass Lego pro Jahr um die 400 Millionen Reifen produziert und damit der grösste Reifenhersteller der Welt ist? Oder dass pro Weltbewohnerin wie auch Weltbewohner knapp 100 der farbigen Spielsteine im Umlauf sind, damit rund zehnmal ein Turm von der Erdoberfläche bis zum Mond gebaut werden könnte oder ein Klötzchen einer Druckkraft von über 4 kN widersteht? Wussten Sie, dass die seit 1978 produzierten Lego-Minifiguren mit einer Population von rund vier Milliarden die grösste Bevölkerungsgruppe der Welt stellen oder in der Weihnachtszeit weltweit pro Sekunde 30 Lego-Sets verkauft werden?

Doch was macht den Erfolg von Lego jenseits des Reifengeschäfts aus? Die kurze Antwort lautet: fast unendliche Spielmöglichkeiten. Bereits sechs Spielsteine im Format 2×4 lassen sich in über 900 Millionen Kombinationen zusammensetzen. Die ein wenig längere Antwort bedarf eines Rückblicks auf die vergangenen neun Dekaden. Diese Retrospektive ist in den Lego-Archiven gut dokumentiert, und sie lohnt sich: Sie erklärt nicht nur diesen Erfolg, sondern vermag auch interessante Parallelen zwischen Lego, der Schweiz und der Planungs- respektive Bauwelt sowie Gemeinsamkeiten des Planungshandwerks mit dem Lego-Spiel aufzuzeigen. Zunächst aber wirds ernst.

Von Billund in die Welt

Lego verdanken wir nämlich zu einem grossen Teil der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929. Der auf den Zusammenbruch des Aktienmarkts an der Wall Street folgende Rückgang des Welthandels traf unter anderem die dänische Landwirtschaft hart. Die Preise für die damaligen dänischen Exportschlager Butter und Speck fielen drastisch; viele Landwirte waren gezwungen, ihre Höfe aufzugeben.

Damit verlor der Zimmermann Ole Kirk Kristiansen im ländlichen Billund den für ihn wichtigsten Kundenstamm und musste seinen Betrieb im Jahr 1931 schliessen. Ohne eine konkrete Vorstellung über seine berufliche Zukunft zu haben, hielt er sich an den Rat des Landesverbands Dänischer Unternehmen, leicht verkäufliche Gebrauchsgegen­stände wie Leitern, Bügelbretter oder Spielzeug her­zustellen und feilzubieten.

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Kristiansen entschied sich für Letzteres und gründete im Jahr 1932 ein Unter­nehmen zur Herstellung von Holzspielzeug. Anfangs stellte er noch weitere Produkte wie z.B. Möbel her, konzentrierte sich dann ab 1935 aber vollends auf Kinderspielzeug – für die damalige Zeit eine eher sonderbare Entscheidung, da es kaum eine seriöse gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kinderspiel gab.

Gleichzeitig mit dieser Entscheidung musste zudem ein neuer Name für die Firma her: «Billund Mas­kins­ned­keri» (dt.: «Schreinerei Billund») erschien Kristiansen reichlich unpassend, und nach einem erfolglosen Wettbewerb unter seinen Angestellten bildete er selbst aus dem dänischen Ausdruck «Leg godt» (dt.: «Spiel gut») die ab 1936 offizielle Firmenbezeichnung Lego.

Die Firma überlebte in der Folge die Kriegsjahre. Allerdings eher schlecht als recht: 1942 zerstörte ein Grossbrand die Fabrik, und mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde es zunehmend schwierig, Buchenholz in der erforderlichen Qualität zu beschaffen. Gleichzeitig bot aber die Nachkriegszeit neue industrielle Möglichkeiten; unter anderem in der Herstellung und Verarbeitung von Kunststoffen.

Ole Kirk, selbst stets an neuen Technologien, Werkzeugen und Maschinen interessiert, folgte dem Trend und kaufte nach einem Messebesuch eine englische Spritzgussmaschine. Mit Zelluloseacetat als Rohstoff kam im Jahr 1949 die erste Produktionslinie primitiver Kunststoffspielsteine unter der Bezeichnung «Automatic Binding Bricks» auf den Markt, die einem erfolglosen ­Produkt eines britischen Spielwarenherstellers nachempfunden waren.

Auch wenn Ole Kirks Söhne, die damals alle im Unternehmen tätig waren, die Kunststoffspielsteine als ruinös fürs Geschäft erachteten, liess er sich vom eingeschlagenen Weg nicht abbringen und überzeugte zunehmend auch einen der Söhne, Godtfred Kirk Kristiansen, vom neuen Produkt. Da Godtfred 1950 zum Junior-­Geschäftsführer ernannt und mit dem Rücktritt seines Vaters 1957 schliesslich Geschäftsführer wurde, war der Weg für das Kunststoffspielzeug geebnet.

Produktmerkmale dank Spielsystem und Schweizer Ingenieurfachwissen

Die «Automatic Binding Bricks» waren so etwas wie die Vorläufer der heutigen Lego-Steine. Sie hatten zwar ebenfalls Noppen auf der Oberseite, aufgrund ihrer komplett hohlen Unterseite aber nur begrenzte Kupplungskraft untereinander und schränkten so die Kreativität im Spiel ein. Zudem waren modulare Spielzeuge mit System zu jener Zeit noch kaum üblich; auch Lego produzierte vorwiegend solitäre Spielzeuge aus Holz und Kunststoff.

Mehr zu Lego in TEC21 32/2022 «Spielsteine im Dienst der Konstruktion»

Nach einer Begegnung mit dem Verkaufsleiter eines Kopenhagener Warenhauses, der seinen Unmut darüber äusserte, dass es praktisch kein modulares Spielzeug gebe, fragte sich Godtfred, wie sich System in die Welt von Lego bringen liesse. Er unterzog das gesamte Produktsortiment einer kritischen Analyse und stellte fest, dass lediglich die Kunststoffspielsteine das gesuchte modulare und kreative Potenzial hatten.

Nach einer intensiven Entwicklungsphase entstand 1955 das erste Systemprodukt «Lego System in Play» und mit ihm der erste «Stadtplan». Mit der Stadtplan-Serie liessen sich für damalige Verhältnisse realistische städtische Umgebungen auf einer mit Strassen und Parzellen stilisierten, aber noch noppenlosen Kunststoffmatte kreieren.

Allerdings gewährten die immer noch kupplungsschwachen Spielsteine nur limitierte Möglich­keiten in den Systemprodukten. Dieses Problem löste Godtfred selbst: Er entwarf kurzerhand die heute noch verwendete Röhrenkonstruktion auf der Unterseite der Steine und reichte 1958 ein entsprechendes Patent ein. Mit der verbesserten Konstruktion stiegen jedoch auch die Anforderungen an das Material der Steine.

Auf der Suche nach neuen Kompetenzen stellte Godtfred 1961 den Schweizer Chemie­ingenieur und Kunststoffexperten Hans Schiess ein. Dieser wurde in der Folge während mehrerer Jahre technischer Produktionsleiter bei Lego in Billund und danach Leiter der Lego Produktion AG in Baar.1 Nach einer längeren Versuchs­phase fand man die Lösung in Acrylnitril-Butadien-Styrol, einem Kunststoff, der gleichzeitig belastbar und bis zu einem gewissen Grad elastisch, gut zu färben und kaum brennbar ist. Ausserdem lassen sich die Spielsteine aus diesem bis heute verwendeten Material mit einer Genauigkeit von 0.005 mm fertigen. Die Möglichkeiten, die das neue Material bot, führten zu den zehn massgebenden Produktmerkmalen von Lego, die wir heute kennen.

Rund zehn Jahre nach Einführung von «Lego System in Play» fragte man sich im Unternehmen, wie sich das Produkt weiterentwickeln liesse. Die Antwort lieferte die Erkenntnis, dass mehrheitlich junge Kinder und vor allem Knaben mit Lego spielen. Im Bewusstsein der zehn Produktmerkmale kam Godtfred zu folgendem Schluss: «Es ist wichtig, dass wir für eine breite Altersgruppe und sowohl für Jungen als auch für Mädchen entwickeln. Und in Zukunft werden wir mehr Wert auf das Spielen in Verbindung mit dem Kreativen und Konstruktiven legen.»

Legos Bezug zur Architektur

Mit diesen Zielen vor Augen versuchte Lego nicht bloss die Konstrukteure von morgen mit seinen System­produkten zu begeistern, sondern auch bereits prak­ti­zie­­rende Planerinnen und Planer. Ab Mitte der 1960er-­Jahre produzierte das Unternehmen mit dem Modulex-­System einen seriösen Baukasten zum Bau von Architektur­modellen.

Das System entstand, weil Lego in seinen Standardspielstein-Abmessungen – alle Lego-­Steine basieren auf einem Kantenmass von 8 mm und einer Würfelhöhe von 9.6 mm – keine massstäblich gebräuchlichen Konstruktionen zulässt. Modulex hingegen lag ein Würfel mit Kantenlänge 5 mm zugrunde, was einen tauglichen Modellmassstab ermöglichte. Aus­serdem waren die Modulex-Steine dem Zweck entsprechend in gedeckten Farben gehalten.

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Doch der Versuch missriet gründlich: Modulex floppte auf der ganzen ­Linie – zu stark haftete dem Produkt das Image des Kinderspielzeugherstellers an, und die Möglichkeiten zur Modellbildung waren durch die orthogonalen Grundbausteine und den Detailmassstab zu stark eingeschränkt. Einzig Lego selbst und eine Handvoll Indus­triekonzerne verwendeten das System zu Planungs­zwecken.

Trotz diesem Misserfolg darf man wohl davon ausgehen, dass Lego seit seiner Fokussierung auf die Systemspielwelt zunehmend den Bezug zur Architektur und zu deren Erschaffern suchte. Allerdings dauerte es noch bis nach der Jahrtausendwende, ehe sich Lego erneut dazu bekannte: In Partnerschaft mit dem US-amerikanischen Architekten Adam Reed Tucker, der zuvor bereits selbstständig Lego-Modelle berühmter Wahrzeichen entwarf, rief Lego ab 2008 die Produkt­reihe «Lego Architecture» ins Leben. Dass es überhaupt zu dieser Partnerschaft kam, ist wohl auch der ersten finanziellen Krise des Unternehmens geschuldet.

Im Jahr 1998 musste Lego den ersten Verlust seit Bestehen hinnehmen. Grund dafür war eine Marktsättigung; in den fünf Jahren davor versuchte man das Wachstum zwar mit neuen Produkten aufrechtzuerhalten, aber die Verkaufszahlen stiegen nicht dementsprechend an; gleichzeitig vernachlässigte man das eigentliche Kerngeschäft mit den farbigen Spielsteinen. Natürlich hat nicht die Architekturlinie das Unternehmen gerettet, sie war aber Ausdruck davon, dass man wieder Vertrauen ins Ursprungsgeschäft hatte.

Allerdings ist die Massenproduktion eines bestimmten Sets mit Bezug zu einem realen Bauwerk für Lego ein zweischneidiges Schwert. Erinnert man sich an Godtfreds Absicht, mehr Wert auf das ­Spielen in Verbindung mit dem Kreativen und Konstruktiven legen, kann Lego damit nur den ­zweiten Aspekt wirklich einlösen. Denn mit einer ­konkreten Bauanleitung in der Hand erinnert das Zusammenstecken eher an Frontalunterricht als an ein kreatives Spiel. Ist Lego also trotz aller guten Absicht ein Kreativitätskiller?

Inspiration vice versa

Nein. Denn erstens darf man Lego nur schon aufgrund der zuvor genannten Architecture-Serien einen Kranz winden, da der Hersteller Architektur weltweit und für alle Altersgruppen auf spielerische Weise erleb- und greifbar macht und nebenbei Ideen für unendliche Nachbauformen und -varianten liefert. Zweitens gibt es noch ein bestimmtes, über 1200-teiliges Set für die Altersgruppe über 16 Jahren, das ein wenig aus der Architecture-Linie tanzt, aber vermutlich die Herzen so mancher Berufskolleginnen und -kollegen höher schlagen lässt: «Lego Architecture Studio». Es beinhaltet lediglich weisse und transparente Steine und wartet mit einem interessanten Begleitbuch auf, das recht gründlich der Frage nachgeht, wie Spielsystem und Baukästen die frühkindliche Entwicklung, aber auch die Entwurfsweise in der Architektur beeinflussen.

Es setzt das Lego-Spielsystem in eine Reihe pädagogisch wertvoller Baukästen wie z.B. Friedrich Fröbels Spielgaben, die mutmasslich formalen Einfluss auf die Entwurfsmethoden der damit aufgewachsenen Architekturavantgarde wie Frank Lloyd Wright, Le Corbusier oder Richard Buckminster Fuller hatten. Es folgt ein Interview mit dem niederländischen Architekten Winy Maas (MVRDV, Rotterdam), der für die «Porous City Lego Towers» (Lego-Hochhausmodelle aus einer Million Spielsteine, die von Lego gestiftet wurden) an der 13. Architekturbiennale verantwortlich zeichnete und damit die Möglichkeiten für einen ökologisch und sozial offenen Hochhaustypus für Europa zeigte.

Höhepunkt des Begleitbuchs ist jedoch ein Austausch mit Architekten von REX (USA), Sou Fujimoto (J), Skidmore, Owings&Merrill (USA), MAD (VR China), Tham&Videgård (S) und Mosche Safdie (USA) über das Potenzial, Lego in der Entwurfsarbeit einzusetzen. Ihnen allen stellte Lego im Rahmen praktischer Workshops Aufgaben zu den Aspekten «Massstab», «Raum und Schnitte», «Modul und Repetition», «Oberfläche», «Masse und Dichte» und «Symmetrie».

Die Reflexion daraus liefert Erkenntnisse zu den Gemeinsamkeiten des Planungshandwerks mit dem Lego-Spiel. Tham& Videgård beispielsweise fanden: «Das Bauen mit Lego ist unserer kreativen Arbeit sehr ähnlich, denn am Anfang wissen wir nicht, was wir bauen – die Möglichkeiten sind unbegrenzt. Man bekommt die Ideen nach und nach, und es ist sehr intuitiv und kreativ», und das Team von Mosche Safdie stellt fest: «Lego ist wie ein drei­dimensionaler Skizzenblock. Mit der Freiheit des Spiels schafft man seine eigenen Probleme und löst sie.»

Lego stellt also unbestritten eine Inspirationsquelle für die Planungswelt dar, aber nicht nur. Auch die Baubranche bedient sich der Spielsteinsystematik. Einige auf dem Markt erhältliche Systembausteine aus normiertem Frisch- oder Recyclingbeton sind mit Konnektoren und Vertiefungen versehen – ähnlich wie das Noppen- und Röhrensystem bei Lego. Mit ihnen lassen sich in ebenfalls beinahe unendlichen Varianten temporäre und permanente Stütz- oder Strukturmauern, Schutz- oder Trennwände, Schüttgutboxen und ganze Hallenkonstruktionen innert kürzester Zeit erstellen. Und im Jahr 2009 baute der britische Fernsehmoderator James May im Rahmen seiner Serie «James May’s Toy Stories» mithilfe von Fachleuten und Tausenden von Helfern aus über 4 Mio. Lego-Steinen ein Haus in Echtgrösse.

Ein Gesamtbauwerk, das die Verwandtschaft mit den Plastikspielsteinen unmissverständlich zeigt, steht – wie könnte es auch anders sein – in Billund. Das Lego House beheimatet ein Museum zur Geschichte von Lego, Ausstellungen und Erlebniswelten, gefüllt mit 25 Millionen Lego-Steinen. Das Gebäude besteht optisch aus 21 überdimensionalen Legos, ist mit Lego-ähnlichen Fliesen verkleidet, stammt aus der Feder der Bjarke Ingels Group und wurde unter massgeblicher Mitwirkung von Dr. Lüchinger+Meyer Bauingenieure geplant.

Beim Entwurf des gesamten Gebäudes und vieler Details folgten die Architektinnen und Architekten konsequent der Lego-­Logik. Er hoffe, damit «in den Mauerwerkshimmel zu kommen», liess sich Ingels einmal zitieren. In seiner Faszination für die Spielsteine meinte er zudem: «Wenn die Bjarke Ingels Group mit dem Ziel gegründet worden wäre, nur ein einziges Gebäude zu bauen – es wäre dieses Gebäude gewesen.»

Lego beflügelt MINT und Nachwuchs

Verlassen wir nun wieder die Welt der «grossen» Lego-Enthusiasten und widmen uns der Frage, welchen Beitrag die bunte Spielwelt an die Nachwuchssicherung in unseren Berufsständen leisten kann. Klar ist: Nicht jedes Mädchen, das mit Lego-Bahnen oder Lego Technic spielt, wird später einmal Ingenieurin; genauso wenig wird aus einem Sprössling, der das Old Trafford nachbaut, später einmal ein zweiter Archibald Leitch2 und gewiss nicht zwingend ein Manchester-United-Fan (für Letzteres sind wohl eher die Väter verantwortlich, die ihrem Nachwuchs derartige Spielsachen schenken).

So kann man es entweder dem Zufall überlassen, ob die heutige Generation von Steinkünstlerinnen und -künstlern dereinst tatsächlich einen MINT-Beruf (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik) anstreben, oder man hilft gezielt nach. Lego hat sich für Letzteres entschieden und eigens MINT-Spielzeuge für den Schul- und Hausgebrauch entworfen. Diverse Sets und die Reihe «Lego Education» fördern das spielerische Lernen in den Hardskill-Fächern und treten damit hoffentlich dem schon seit Jahren zu beobachtenden Trend der Unterbesetzung im Ingenieurwesen entgegen.

Zusätzlich gibt es zahlreiche private Initiativen, die in einem ausserschulischen Rahmen Lego einsetzen, um Kindern einen Zugang zu den Ingenieurwissenschaften zu verschaffen. Ein Beispiel dafür ist die «Lego Challenge» von Young Engineers Schweiz – eine Veranstaltungsreihe mit eigens dafür zusammengestellten Bausteinset. Sie soll Schülerinnen und Schülern im Alter zwischen sechs und zehn Jahren zu Randzeiten oder an schul­freien Nachmittagen die aufregende Welt der MINT-­Fächer näherbringen.

Dass aus der Synergie zwischen Lego und dem Ingenieurwesen Weltrekorde entstehen, ist indes offi­ziell nachgewiesen. Bereits im Jahr 2016 baute die britische Institution of Civil Engineers (ICE), eine Vereinigung zur öffentlichen Förderung des Bauingenieur­wesens, die bis zu diesem Zeitpunkt längste, aber nicht begehbare Brücke aus Lego-Steinen. Die «Schrägseilbrücke» war knapp 34 m lang, rund 3 m hoch, mass in der längsten Spannweite knapp 16.5 m und bestand aus gut 200000 Steinen. Die Brücke wurde mehrere Male ab- und an anderen Orten auf der Welt wieder aufgebaut; Öffentlichkeitsarbeit für den Bauingenieurberuf, die ihres­gleichen sucht. Vier Jahre später gelang einer regionalen Sektion der Vereinigung gar ein neuer Rekord, als die Brücke in derselben Bauweise, aber mit einer vergrösserten Spannweite von knapp 17 m (und vermutlich noch einigen Steinen mehr) in den Räumlichkeiten des Ironbridge Gorge Museum erneut aufgebaut wurde.

Nebenbei lancierte Lego mit «Rebuild the ­World» eine Reihe, die Kunst- und Kulturschaffende mit Kindern für ein ergebnisoffenes Projekt zusammenbringt. Für dieses Vorhaben stellte sich unter anderen der ghanaisch-britische Architekt Sir David Adjaye zur Verfügung. Mit der Idee, etwas aus der realen Welt nachzubauen, fand er in Accra, der Hauptstadt Ghanas und Niederlassung seines Architekturbüros, die gesuchte Inspiration: den auf vier Seiten perspektivisch projizierten Schwarzen Stern von Afrika, der ein Bauwerk auf dem Unabhängigkeitsplatz ziert. Nachdem er die Modellbasis selbstständig schuf, verpasste er dem Lego-­Bauwerk zusammen mit Kindern aus einem lokalen Waisenhaus den Feinschliff und liess sie das Modell nach eigenen Ideen dekorieren.

Zu seiner Begeisterung bauten die Kinder auf den vier Eckplattformen der 3-D-Figur jeweils abstrahierte Kleinstädte, die über ihre Gestaltung einen Bezug zueinander aufbauen. Rückblickend sah Adjaye – ähnlich wie die Architekten, die Lego zum Bauen mit «Architecture Studio» anregte – grosse Parallelen zwischen dem Planungshandwerk und der Architektur. So war er der Ansicht, das Vorgehen beim Lego-Spiel sei genau gleich wie in einem Architekturprojekt: «Ein Prozess des Testens, Verbesserns und anschliessenden Perfektionierens.»

Lego und die Nachhaltigkeit

Rückblickend hat Lego hat unbestritten grosse Verdienste als Kinderspielzeughersteller und Förderer im technisch-wissenschaftlichen Umfeld erbracht. Diese Erfolgsgeschichte hinterliess allerdings einen gewaltigen Fussabdruck in unserer Umwelt. Acrylnitril-Butadien-Styrol (das Material, aus dem die Steine und übrigens auch andere Spielsachen wie Playmobil sind) und eine Vielzahl anderer von Lego verwendeter Kunststoffe benötigen grosse Mengen an fossilen Rohstoffen bei der Herstellung und verursachen massenhaft Treibhausgase in der Produktion.

Im Jahr 2016 veröffentlichte Lego zuletzt Zahlen zum Rohstoffbedarf für seine Produkte: insgesamt 90 Mio. Tonnen, wovon vermutlich (genauere Angaben sind nicht verfügbar) ein grosser Teil fossiler Art sind. Aktuellere Angaben existieren dagegen bezüglich der Treibhausgasemissionen: Im Jahr 2020 verursachten alle globalen Tätigkeiten inklusive zugehöriger Lieferketten 1.2 Mio. Tonnen CO2-Äquivalente – in der Grössenordnung entspricht das knapp 3 % der auf Schweizer Territorium ausgestossenen klimawirksamen Gase (exkl. internationalem Flug- und Schiffsverkehr) im Jahr 2020.

Es lässt sich somit nicht bestreiten, dass der Konzern in Sachen Nachhaltigkeit noch einen langen Weg vor sich hat. Einen, den er aber mit grossen Zielen unter die Füsse nimmt und auf dem er auch schon erste Erfolge verzeichnet. Seit 2006 legt Lego in jährlich veröffentlichten Berichten Rechenschaft zu den Themen Nachhaltigkeit und gesellschaftlicher Verantwortung ab.

Einen ersten Meilenstein setzte man 2014 mit der Teilnahme am WWF Climate Savers Program. Diese Partnerschaft gab Lego Anlass, seine Geschäftstätigkeiten und Lieferketten zu beleuchten und nach Möglichkeiten zu suchen, sie nachhaltiger zu gestalten. Im Jahr darauf startete das Unternehmen eine Initiative, um sämtliche Produkte bis 2030 aus nachhaltigen ­Materialien herzustellen.

2017 dann erreichte Lego schliesslich ein erstes Ziel: In der Energiebilanz waren die eigene vor Ort oder extern erzeugte, nachhaltige Energie und die an den einzelnen Firmenstandorten verbrauchte erstmals ausgeglichen. Dafür investierte der Konzern hauptsächlich in Offshore-Windkraft­anlagen in Deutschland und Grossbritannien und reduzierte den Bedarf in der Produktion. Kurz darauf gelang es erstmals, rund 100 Produkte des Sortiments aus biobasierten Rohstoffen (nachhaltig angebautem Zucker­rohr) herzustellen. Dem Thema Kreislaufwirtschaft widmete sich schliesslich 2019 «Lego Replay», das Menschen ermutigen soll, gebrauchte Spielsteine weiterzugeben respektive an Kinder in Not zu spenden.

Klar: Das sind kleine Schritte, und sie gehören wohl zur Wahrnehmung der sozialen Verantwortung eines derart grossen Unternehmens. Auch konnte der Konzern vergangenes Jahr den Prototyp eines aus rezykliertem Kunststoff hergestellten Spielsteins vorstellten. Das verwendete Material stammt von PET-Flaschen: Eine Literflasche liefert dabei Rohmaterial für gut zehn 2×4-Steine. Die Serienreife ist allerdings noch nicht erreicht. Das PET-Projekt ist eines von vielen: Ende dieses Jahres wird Lego nur schon in den letzten drei Jahren bis zu 400 Mio. Dollar in Nachhaltigkeitspro­jekte investiert haben. Das entspricht rund 5% des Um­satzes im Jahr 2021.

Man darf von diesen Bestrebungen halten, was man will. Das schlagkräftigste Nachhaltigkeitsargument von Lego ist sicherlich die Langlebigkeit: Die Spielsteine werden in vielen Familien über Generationen weitergegeben oder wechseln ihren Besitzer an Secondhand-Börsen. Dieser Umstand ist unbestritten Godtfred Kirk Kristiansens Patent geschuldet, das seit den späten 1950er-Jahren die Kompatibilität aller Lego-Steine weltweit sichert. Vor diesem Hintergrund sollten der ökologische Fussabdruck und die Nachhaltigkeitsbestrebungen von Lego immer auch in Relation zur Lebensdauer der Produkte oder deren Komponenten gesetzt werden.

Kreativität – auch in unsicheren Zeiten

Es gäbe bestimmt noch endlos weitere Facetten am drittgrössten Spielzeughersteller der Welt zu entdecken. Das anfangs gesuchte Geheimnis des Erfolgs ist aber gewiss ansatzweise gelüftet. Überhaupt gelingt es Lego, einerseits langjährige Begleiter – wie beispiels­weise Architekturschaffende und Ingenieurinnen – an sich zu binden, andererseits bringt der Hersteller die unbegrenzten Spielmöglichkeiten seiner Produkte mit Projekten am unmittelbaren Weltgeschehen immer wieder auf den Punkt.

So auch im ersten Jahr der Corona-Pandemie: Ebenfalls im Rahmen der «Rebuild the World»-­Reihe motivierte Lego Kinder rund um die Welt, ihre Kreativität und Fantasie nicht durch Einschränkungen drosseln zu lassen, sondern die Welt in ihren Augen mit Lego-Kreationen auszudrücken. Der Rücklauf auf diesen Aufruf fand Gestalt in einer tollen Synthese. Lego modellierte kurzerhand eine knapp 4 m grosse Erdkugel, baute ausgewählte Werke der jungen Modellbauerinnen und Modellbauer sortiert in fünf Kategorien nach und setzte sie am Heimatort des Kinds auf den Globus.

Genau solche Projekte bringen zahlreiche Aspekte – wie etwa Kreativität, Abstraktionsvermögen oder Kultur–, die Lego mit unserer Branche verbindet, auf denkbar simple Weise zum Ausdruck. Aspekte, die Architektinnen oder/und Ingenieure befähigen, ihre Tätigkeiten auszuüben. Hand aufs Herz: Waren es nicht auch solche Themen, die uns letztlich zur Wahl unserer Berufe veranlasste? Als Eltern Lego-spielender Kinder sollte man demnach getrost die Schmerzen beim Barfusstritt auf herumliegende Legos in Kauf nehmen; sie sind bestenfalls für einen guten Zweck. Und wenn das Kind auf Nachfrage nicht genau weiss, was es baut, und an der immergleichen Fügung herumbastelt, wird aus ihm vielleicht der nächste Projektleiter eines neuen Berliner Flughafens.

Die ausführliche Version dieses Artikels und mehr über Lego in TEC21 32/22 «Stein auf Stein».

Anmerkungen

 

1 Nach Erweiterungen auf zusätzliche Standorte in der Region gab Lego kurz nach der Jahrtausendwende alle Schweizer Entwicklungs- und Produktionsstandorte auf. Während ihres Betriebs waren sie laut einem NZZ-Artikel immerhin für 30% der Weltproduktion verantwortlich. Nach knapp 20 Jahren unternimmt Lego nun einen erneuten Anlauf in der Schweiz: Diesen Herbst soll der erste Schweizer Lego-Store im Glatt­zentrum in Wallisellen ZH eröffnen (genaues Eröffnungsdatum noch unbekannt).

 

2 Archibald Leitch (1865–1939) war ein schottischer Architekt, der sich praktisch während seiner gesamten Karriere dem Bau von Fussballstadien widmete. Er zeichnete verantwortlich für die Ursprungsbauten mehrerer heute noch in Betrieb stehender Stadien wie z.B. Anfield (Liverpool), Old Trafford (Manchester United), Selhurst Park (Crystal Palace), Goodison Park (Everton) oder Villa Park (Aston Villa). Der Einsturz einer hölzernen Tribüne in einem von ihm entworfenen Stadion führte zu Beginn des 20. Jahrhundert zwar zu einer kurzzeitigen Schädigung seines Rufs – ein neues Konstruktionspatent vermochte ihn aber zu rehabilitieren, und in den Jahren bis zu seinem Tod erhielt Leitch Aufträge zur Planung von mehr als 20 Fussballstadien im Vereinigten Königreich und Irland.

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