Neuer Pull­man in Win­ter­thur

Projektwettbewerb Stellwerk 2, Winterthur

Das Projekt «Pullman» von Esch Sintzel Architekten markiert die städtebaulich signifikante Situation am nördlichen Ende des Bahnhofs Winterthur. Durch den Bezug zu Waggoninterieurs und ­Archivstrukturen schafft es effiziente Wohn- und Büroformen.

Data di pubblicazione
06-02-2020

Für das Winterthurer Areal «Milchküche» wurde 2001 ein Studienauftrag ausgelobt, an dem sechs Teams teilnahmen. Das Siegerprojekt von agps architecture diente als Grundlage für den privaten Gestaltungsplan «Milchküche», der 2006 in Kraft trat. Die erste Etappe, das Bürogebäude Stellwerk 1 wurde 2010 von agps direkt neben dem historischen Bahnhofsgebäude fertiggestellt. Daneben verblieb an exponierter Lage, neben der Unterführung Wülflingerstrasse, das längliche Grundstück zwischen Gleisen und Bahnhofplatz. Auf dieser zentral gelegenen Freifläche, auf der sich ehemals das Personalrestaurant der SBB befand und die im Untergrund eine zu erhaltende Stellwerkzentrale beherbergt, soll nun das Stellwerk 2 entstehen.

Weitere Pläne und Visualisierungen zum Wettbewerb finden sich auf competitions.espazium.ch

Die SBB, vertreten durch die Division SBB Immobilien, als Grundeigentümerin, schrieb einen Projektwettbewerb mit Präqualifikation aus. Von den 38 Teams, die sich bewarben, wurden sechs ausgewählt um in Zusammenarbeit mit Fachplanern aus den Bereichen Lärmschutz, Statik und Gebäudetechnik eine Überbauung mit Fokus auf Wohn- und Büronutzung zu entwickeln. Das Wettbewerbsprogramm muss genau studiert werden, denn die SIA 142 finde nur da Anwendung, wo sich aus dem Programm nichts Abweichendes ergäbe. Das Einreichen eines virtuellen Gebäudemodells (VGM) war obligatorisch, für dessen Erstellungsaufwand erhielt jedes Team einen sogenannten BIM-Zuschlag. Das Erreichen des DGNB-Zertifikats für nachhaltiges Bauen in Silber ist Ziel. Da bei den nach zwei Jurytagen verbleibenden Projekten Mängel festgestellt wurden, entschied die Jury alle drei Projekte in einer anonymen Bereinigungsstufe überarbeiten zu lassen. Diese Stufe wurde zusätzlich entschädigt.

Aufgrund des Bevölkerungswachstums der Stadt Winterthur sowie der hohen Nachfrage an Kleinwohnungen bestand die Aufgabe darin sich mit neuartigen urbanen Wohntypologien für Ein- und Zweipersonenhaushalten zu beschäftigen. Während sich an der frequentierten Lage im Erdgeschoss Retail-, Gastro- und Kleingewerbeflächen anbieten, wurden für die Obergeschosse zwei unterschiedliche Nutzungsszenarien angedacht. Die Hauptvariante mit Büronutzung im ersten und zweiten Obergeschoss und Wohnnutzung in den obersten Geschossen sollte einerseits, im Sinne einer hohen Flexibilität und Nachhaltigkeit, eine spätere Umnutzung der Wohngeschosse in Büroflächen möglich machen. Die geforderte Untervariante sollte andererseits die Möglichkeit einer reinen Büronutzung darstellen.

Das Programm forderte gleichzeitig die Beschäftigung mit dem Prinzip des «microliving» um sehr effizient organisierte Ein- bis Zweieinhalb-Zimmer-Wohnungen zu schaffen, die im Sinne des «coliving» oder «shared-office-Konzeptes» durch gemeinschaftlich nutzbare Flächen ergänzt werden sollten. Das Projekt solle so entwickelt werden, «dass für die SBB Immobilien und die zukünftigen Nutzer der Liegenschaft nachhaltig eine hohe Wertschöpfung resultiert.»

Waggon und Archiv

Das Projekt «Pullmann» von Esch Sintzel Architekten ging als Sieger hervor. Es setzt die Reihung der Einzelbauten entlang der Gleise fort und ergänzt durch seine konkaven Einschnitte die beiden konvexen Kopfbauten am St. Georgenplatz. Die Verjüngung zu beiden Enden lässt zwei aufrechte Stirnfassaden entstehen, die das Gebäude am Ort verankern. An den Enden befinden sich auch die beiden Aufgänge: Führen die Wendeltreppen direkt in die Büroetagen, so leitet in den Wohngeschossen ein breiter Mittelgang zu den einzelnen Wohnungseingängen. Wie ein Fahrzeug setzt sich das Gebäude aus Gestell und Karosserie zusammen, eine Abfangdecke schützt das unterirdische Stellwerk. Die Stahlkonstruktion mit nur zwei Stützen in Querrichtung überspannt die Gebäudetiefe, zwei Fachwerktürme an den Gebäudeenden steifen das System aus. Sowohl im Erdgeschoss als auch in den Büro- und Wohngeschossen entstehen flexible, nutzungsoffene Räume, die durch Einbauten spezifisch auf eine Büro- oder Wohnnutzung eingehen. Auf den beiden Büroetagen können Regale und Korpusse wie beim Compactus-Archivsystem gegeneinander verschoben werden, sodass mit wenig Aufwand unterschiedlich grosse Räume abgegrenzt werden können, aber auch ein Grossraum möglich ist. Eine Raumfolge von Eingangsbereich mit Bad, mittigem Möbelkorpus und Loggia zoniert den Raum: Wie in einem komfortablen, Schlafwaggon werden unterschiedliche Nutzungen, wie Schlafen, Wohnen und Kochen, effizient organisiert. Aufgrund der Lärmimmissionen werden am nördlichen Gebäudeende Co-Working-Räume, Waschsalons sowie zwei Attika-Maisonetten integriert. Die Holzständer-Aussenwände werden mit profilierten Blechelementen verkleidet, die durch ihre konkaven Verformungen wie eine edle Hülle anmuten. In den Wohnungen werden glänzende Metalloberflächen durch matte Wand- und Bodenflächen ergänzt.

Konstruktion und Flexibilität

Das Projekt «Equilibrium» von Made in und Caretta+Weidmann dockt an das Stellwerk 1 an und kreiert eine geschwungene Spitze auf dem sich verjüngenden, nördlichen Bereich des Grundstücks. Das Überbrücken des unterirdischen Stellwerks zwischen Strasse und Gleis dient als Ausgangspunkt von Konstruktion und Raum. In einem Achsmass von 6.7 Metern stehen A-förmige Stahlrahmen; strassenseitig laufen diese bis zur UG-Decke durch, perronseitig steht nur jede dritte Stütze auf dem Boden. Ein Vierendelträger in dieser Fassadenebene überträgt die vertikalen Lasten aus den nicht durchlaufenden Querrahmen, eine aussteifende Diagonale verläuft unter den durchlaufenden Querrahmen durch das 1.OG und das EG. Dem Tragwerk folgend staffelt sich die strassenseitige Fassade in den Wohngeschossen nach hinten und wird von einer schmalen Balkonschicht belebt. Das Achsmass schafft sowohl für die Büros als auch für die Wohnungen eine klare Struktur. Durch Trennwände in den Halbachsen können auch kleine Büroräume unterteilt werden. Der Laubengang ermöglicht längliche, zweiseitig orientierte Wohnungen, die durch Vorhänge unterteilt werden können. Trotz des hohen Flexibilitätsgrades überwiegen für die Jury die Widersprüche der Laubengangtypologie und der Tragstruktur. Der Laubengang ermögliche nicht die verbindenden Eigenschaften eines privaten wie gemeinschaftlichen Aussenraums; die Stützen stehen zu nahe am Perronrand und behindern die Personenhydraulik.

Das Projekt «Gordon» von Dürig Architekten schafft ein kompaktes, rechteckiges Solitärgebäude, das den nördlichen Bereich als Vorraum belässt und als Caféterrasse vorsieht. Ein Betontisch mit massiven Stützen und Trägern überspannt das gesamte Erdgeschoss und tangiert das unterirdische Stellwerk nicht. Die Tischkonstruktion ermöglicht auf allen Etagen dieselbe flexible Struktur; unter dieser steht im Erdgeschoss eine leichte, offene Glas-Stahl-Konstruktion. Die oberen Geschosse leben durch die in eloxiertem Aluminium verkleideten Brüstungsbänder. Zuoberst thront ein Dachaufbau, der Technikräume sowie einen Club mit Terrasse für die Bewohner beherbergt. Über den mittigen Eingangsbereich erreicht man zwei Treppenhäuser, um diese gliedern sich in den Bürogeschossen Neben- und Besprechungsräume, die Wohnungen werden über einen Mittelgang erschlossen. Die Büroarbeitsplätze und die Wohnungen gliedern sich allseitig entlang der Fassade. Die klare städtebauliche Setzung und Effizienz vermochte die Jury zu überzeugen, die Wohnungen und die generisch anmutende Fassade überzeugte jedoch nicht.

Der Entwurf «Pullmann» kreiert, wie das abgebrochene, jedoch in seiner Grundform überbaute, ehemalige «Lichtspielhaus Talgarten» (1926) und das Volkartgebäude (1928) der Architekten Rittmeyer Furrer, markante Ecklösungen. Sind diese bei den beiden historischen Bauten aus der neuen Dynamik des Verkehrs entstanden, so bezieht sich der autonome nahezu symmetrische Baukörper des Stellwerk 2 in Formgebung und Aufbau auf die vorüberziehenden Züge.

 

Auszeichnungen

1. Rang / 1. Preis: «Pullman»
Esch Sintzel Architekten, Zürich; dsp Ingenieure & Planer, Zürich; Gutknecht Elektroplanung, Au; Planforum, Winterthur; Planforum, Winterthur; Mühlebach Partner, Winterthur
2. Rang / 2. Preis: «Equilibrium»
ARGE Made in, Zürich, und Caretta+Weidmann Generalplaner, Zürich; Dr. Lüchinger + Meyer Bauingenieure, Zürich; Hefti.Hess.Martignoni, Aarau; Jakob Forrer, Buchrain; Bauconnect, Stans; Wichser Akustik & Bauphysik
3. Rang / 3. Preis: «Gordon»
Dürig, Zürich; Dr. Deuring + Oehniger, Winterthur; Amstein + Walthert, Zürich

FachJury

Beat Rothen (Vorsitz), Architekt; Thomas von Ballmoos, Architekt; Piet Eckert, Architekt; Franziska Manetsch, Architektin; Oliver Erb (Ersatz), Architekt

SachJury

Jens Andersen, Stadtbaumeister Winterthur; Roger Ochsner, SBB Immobilien Development; Peter Wicki, SBB Immobilien, Portfolio Management; Markus Siemienik, SBB Immobilien Development (Ersatz)

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