«Mi­me­sis im In­ge­nieur­bau»

Überlegungen zu den Wett­bewerbs­kriterien für die Steinschlaggalerie in der Ruinaulta von Jürg Conzett, dessen Büro mit dem Projekt «Kontinuum» am Wettbewerb teilnahm.

Data di pubblicazione
19-11-2020
Jürg Conzett
dipl. Bauingenieur ETH / SIA, Mitglied der Geschäfts­leitung Conzett Bronzini Partner, Chur

«Es ist eine interessante Aufgabe, eine Steinschlaggalerie in eine Landschaft von na­tionaler Bedeutung zu setzen. Doch was heisst das konkret? Die Jury gibt in ihrer Preiszuteilung und in ihren Äusserungen eine Antwort, die mit dem Begriff «Mimesis» charakterisiert werden kann. In der Biologie bedeutet Mimesis die absichtsvolle Einpassung von Pflanzen und Tieren in ihre Umgebung in täuschender Absicht.

Entweder um sich durch Tarnung, Abstossung oder Imponiergehabe vor dem Gefressenwerden zu schützen, oder, umgekehrt, durch attraktive Erscheinung nützliche Elemente anzuziehen. Die Vielfalt der Möglichkeiten ist faszinierend.1

In diesem Sinn liest sich der Jurybericht zur Steinschlaggalerie Aulta wie ein Katalog der Mimesis im Ingenieurwesen. Da gibt es die Galerie, die sich kontraktiert, als wäre sie eine grosse Raupe. In anderen erkennt die Jury einen Bezug zu den abfallenden Furchen des Steinschlaghangs. Einige sperren das Maul auf (Deckel nach hinten abfallend), weitere senken die Augenlider dezent gegen den Rhein.

Ein Projekt gebärdet sich als Schneeschutzgalerie, was die Jury an etwas erinnert, das sie kennt und gern hat. Dann gibt es den gefährlichen Neophyten, invasiv, als käme er direkt mit dem schnellen Zug aus Frankreich. Wieder andere geben sich harmlos, dringen jedoch mit ihren Flossen tief in den Berg. Das Wesen der Mimesis ist eine Welt der Bilder und der Täuschungen.

Genügt die Mimesis zur Beurteilung dieser anspruchsvollen Aufgabe? Liefern die rein bildlichen Argumente relevante Aussagen zum Umgang mit der Landschaft für eine Galerie des 21. Jahrhunderts?

Mir fehlt die ingenieur­mässige Diskussion: Was ist der Unterschied zwischen einer Lawinenschutzgalerie und einer Steinschlaggalerie? Was hat dieser Unterschied mit der Anzahl und Stellung der Stützen zu tun? Wie verhalten sich Schalenkonstruktio­nen im Vergleich zu Scheiben-Platten-Systemen? Wie erreicht man einen sparsamen Materialeinsatz (eine wichtige Frage für ein 265 m langes Bauwerk, finde ich). Ist ein kleiner Fussabdruck nicht der beste Beitrag zum Landschaftsschutz, unabhängig vom Erscheinungsbild?

Im Jurybericht wird das Erscheinungsbild des Siegerprojekts ausgiebig gewürdigt. Dass es sich aber auch um das materialspa­ren­ds­­­te der Projekte der zweiten Beurteilungsrunde handelt, wird nicht erwähnt (es erschliesst sich dem aufmerksamen Leser aber in der Tabelle von Seite 25 des Juryberichts). Doch gerade dieser quantitative Aspekt zeigt, dass sich die Verfasser dieses Projekts auch noch von anderen Zielen leiten liessen als von mimetischen Analogien und Spielereien. Das tröstet über den einseitig argumentierenden Jury­bericht hinweg.

Materialeinsatz und Fussabdruck haben das Projektteam von «Kontinuum» ausgiebig beschäftigt (neben den natürlich ebenfalls wichtigen Themen des Überflies­sens und der Wahrnehmung der Bahnreisenden). Konstruktiv betrachtet kann bei einer Steinschlaggalerie der Block über jeder Stütze auftreffen, also muss jede Stütze auf die Aufprallkraft bemessen werden, dies unabhängig von ihrem Abstand, so eine erste These. Eine zweite These wäre, dass Schalen Durchstanzkräften besser widerstehen als Platten. Schalen besitzen eine grosse Längssteifigkeit, also ermöglichen sie grosse Stützenabstände. Dies im Sinn einer Ökonomie und einer Aussicht für die Bahnreisenden. Schalen arbeiten vorwiegend mit Membrankräften, brauchen deshalb keine Fusseinspannung und können auf bergseitige «Flossen» verzichten.

Ich erwähne dies stellvertretend für eine mögliche konstruktive Auseinandersetzung mit der Aufgabe, über die aus dem Jurybericht nichts zu erfahren ist. Es wäre interessant gewesen, über ähnliche Gedankengänge hinter anderen Projekten auch etwas zu lernen. In unserem Fall haben die konstruktiven Überlegungen zum mutmasslich materialsparendsten aller Projekte mit dem kleinsten Fussabdruck geführt, was nach den oben erwähnten Thesen nicht überrascht. Ich will das nicht überbewerten, und natürlich bin ich der Letzte, der fordert, dass sich eine Jury bei ihren Entscheiden rein quantitativen Aspekten unterwirft. Aber eine vertiefte Auseinandersetzung mit konstruktiven Fragen über die bildlichen Argumente hin­aus hätte die Entscheide und Äus­serungen der Jury vielleicht etwas präziser oder anders ausfallen lassen.»

Anmerkung
1 Eine gute Beschreibung der verschiedenen Arten von Mimesis bietet das Buch von Andreas Gigon: Symbiosen in unseren Wiesen, Wäldern und Mooren, 60 Typen positiver Beziehungen und ihre Bedeutung für den Menschen, Haupt Verlag, Bern 2020.

– Wettbewerbsbesprechung: «Eine Galerie in der Ruinaulta»
– Pläne und Jurybericht zum Wettbewerb: competitions.espazium.ch

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