Annäherung an Heinrich Tessenow
Heinrich Tessenow ( 1876–1950 ) war einer der bedeutendsten deutschen Architekten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine neue Monografie zeichnet nun ein Bild von Tessenow jenseits des Bekannten.
Für das Werk Heinrich Tessenows (1876–1950) steht das Bild eines Siedlungshauses mit Satteldach. Auf den ersten Blick etwas bieder, bei näherer Betrachtung aber fein proportioniert und der Vernunft und Sparsamkeit der reformatorischen Lebensauffassung entsprechend. Damit befand er sich in Opposition zu vielen Zeitgenossen der funktionalen Moderne, die insbesondere das Satteldach als «altertümelnd» und als in seiner Vielfalt zu beliebig ablehnten.
Das Erwägen aller möglichen Bauformen und Materialien, das Akzeptieren eines Nebeneinanders zugunsten der situativ besten Lösung, prägte die Architekturauffassung Tessenows. Er orientierte sich an den Veränderungen der Gesellschaft, die er mit Konzepten und Bauten jeglichen Massstabs zu unterstützen suchte. Dabei wandte er sich aber nicht von den Erkenntnissen des guten Bauens ab, sondern führte sie undogmatisch weiter. Auf der Suche nach Lösungen im Umgang mit dem Bestand ist dieser Aspekt heute besonders interessant.
Im Rahmen der gross angelegten Feldforschung stellt der Autor, der an der Hochschule in Mendrisio lehrt, diese integrative Denkweise Tessenows heraus. Erstaunlich und der systematischen Aufarbeitung des Autors zu verdanken ist der Überblick über die Bandbreite des Werks. Es erstreckt sich vom Papierkorb über Einfamilienhäuser und Schwimmbäder bis zu städtebaulichen Planungen wie der Gartenstadt und dem 1912 fertiggestellten Festspielhaus Hellerau.
Das Archiv Tessenows verbrannte im Zweiten Weltkrieg. Glücklicherweise ist ein grosser Teil der vor dem Krieg entstandenen Bauten fotografisch dokumentiert oder sogar erhalten. Sei es wegen seiner mangelnden Distanz zum Naziregime, sei es wegen veränderter Bauziele der Auftraggebenden – spätere Entwürfe blieben häufig unrealisiert. Die Verwandtschaft zur Architektur des Rationalismus in Italien wie zum Beispiel den Bauten von Giuseppe Terragni, ist unverkennbar. 1950, als der grosse Wiederaufbau Fahrt aufnahm, starb Tessenow, so dass seine Ideen keinen Eingang in die neuen Stadtplanungen fanden.
Der Katalog erscheint begleitend zu einer umfassenden Ausstellung, die bereits in Mendrisio und Dresden gezeigt wurde. Eine weitere Station in Dortmund ist für 2024 geplant.
Martin Boesch (Autor und Hg.): Heinrich Tessenow. Annäherungen und ikonische Projekte. Edition Hochparterre, Zürich 2023. 532 Seiten, über 1300 historische und aktuelle Abb., Hardcover 30 × 28.5 cm, ISBN 978-3-909928-82-8, Fr. 89.–
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