Schritt für Schritt zu ei­ner Wohn­po­li­tik für al­le

Neue Bücher

Der Fokus der Architekturforschung liegt immer stärker auf den ­grundsätzlichen Fragen: Nicht die Form allein, sondern die Nutzenden und deren Wirkungsmacht interessieren. Zwei neue Publikationen untersuchen eine Umbaustrategie der kleinen Schritte und die Voraussetzungen für eine gemeinnützige Wohnbaupolitik.

Data di pubblicazione
21-01-2025

Architektur werde beschwingt und gleichzeitig bedrängt vom hohen Tempo der Bau­industrie, die ständig Neues und davon immer mehr wolle. Dies bringe Architekturschaffende in eine Zwickmühle zwischen Komplizenschaft und Widerstand, schreiben Oliver Burch, Jakob Junghanss und Lukas Ryffel vom Architekturkollektiv 8000.agency in der neusten Pub­likation der Professur Jan de Vylder an der ETH Zürich. Es handelt sich um eine Dokumentation von Se­­­mes­terpro­jekten, die mit grundsätzlichen Überlegungen zu baulichen Ent­stehungsprozessen erweitert wurde und deren Titel auch gleich das Programm erklärt: Towards Transformation – The 33.3 % Attitude. 

Drittels-Schritte

Es gehe nicht um die stetige Maximierung, sondern um eine Strategie der kleinen (Drittels-)Schritte, die mit minimalen Eingriffen langfristig wirkende Veränderungen einleiten könne. Der Band übt explizit Kritik an Zürichs Ersatzneubau­strategie, indem er anhand von konkreten Fallbeispielen aus der Stadt Zürich in 22 ganz unterschiedlichen Projekten Alternativen zum bishe­rigen Vorgehen aufzeigt. In Fachkreisen klingt die Euphorie über Ersatzneubauten offensichtlich und definitiv ab. Neue Ansätze mit Teil­erhalt in verschiedensten Spielarten suchen keine hundertprozentige Lösung, sondern graduelle, fragmentarische Zustände zwischen Neu und Alt, die umsichtig und langfristig ihre Wirkung entfalten könnten: mit der 33.3 %-Methode eben.

Auf Zahlenspiele lassen sich auch andere Reflexionen zu Zürichs Wohnbaupolitik ein: Die drei Wohnbauforscherinnen Anne Kockelkorn, Susanne Schindler und Rebekka Hirschberg nennen in ihrem Buch «Cooperative Conditions. A Primer on Architecture, Finance and Regulation in Zurich» acht Bedingungen, die den hohen Anteil von 18 % genossenschaftlichen Wohnungen im Wohnungsbestand der Stadt Zürich möglich machte. Eine Besonderheit der Zürcher Situation ist unter anderem, dass die Wohnbaugenos­senschaften in der Regel mit Regulierungsmassnahmen unterstützt werden und seltener in Form von direkten finanziellen Zuwendungen. Beispielsweise geschah dies während der Wirtschaftskrise der 1920er-Jahre, als das «Rote Zürich» grosszügige Baukredite vergab. Regelungen zur Erschliessung und Nutzung von Grundstücken wirken sich, wie die Forschung belegt, auf soziale Nachhaltigkeit und die architektonische und städtebauliche Innovation aus.

Acht Bedingungen

Auch dieses Buch entstand an der ETH Zürich, und zwar als Forsch­ungs­projekt des MAS-Programms am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (gta). Die Initial­zündung hatte eine Einladung zur Architekturbiennale in Venedig von 2021 geliefert, als das Kuratorenteam um Hashim Sarkis fragte: «How will we live together?» und die Forscherinnen um einen Beitrag zur Wohnpolitik bat. In gros­sen Buchstaben sind die Themen der acht Kapitel auf dem Buchumschlag aufgedruckt: 

1 An Idea of Sharing (Eine Idee des Teilens) 
2 Public Opinion (Öffent­liche Meinung)  
3 Nonspeculation (Nicht-­­Spekulation) 
4 Equity (Eigen­kapital) 
5 Debt (Schulden) 
 6 Land (Land) 
7 Zoning (Zonierung)  
8 The Competition (Der Wettbewerb)

Konsequent werden unter jeder dieser acht «conditions» die spezifischen Finanzierungs- und Verwaltungsinstrumente des gemeinschaft­lichen Woh­nungs­­baus in Zürich untersucht. Entstanden ist ein Kompendium, das einen weiten Bogen zu den Anfängen der Wohnbaugenossenschaften vor über 100 Jahren und über die Grenzen der herkömmlichen Blickwinkel von Architektinnen und Architekten spannt.

Mit einer Vielzahl von Interviewpartnern und Recherchen zu Protagonistinnen aus den Anfängen der Genossenschaftsbewegung haben die drei Wohnpolitikexpertinnen mit ihrem Forschungsteam während der letzten fünf Jahre Geschichten und Argumente gesammelt. So stiessen sie auch auf die Aktivistin Dora Staudinger, die sich massgeblich in der 1916 gegründeten Allgemeinen Baugenossenschaft ­Zürich (ABZ) engagierte. In ihrem Buch «Wohnung für Alle!» von 1922 schrieb sie: «Dass wir Wohnungsnot haben, ist eine Folge der Tatsache, dass die Häuser und vor allem der Boden Ware sind, wie alles andere, was Menschen heute brauchen; d. h. ein Gegenstand, den man um des Profites willen eintauscht.»

Staudinger meinte schon damals, dass das gemeinnützige Wohnen nicht nur eine Frage des Geldes sei: Wenn der Profit nicht mehr den Antrieb liefere, so Staudinger, müsse das Verantwortungsgefühl und der Gemeinschaftswille dies tun. Ihre Argumente für die genossenschaftliche Selbstverwaltung fanden in den kommenden Jahren breite Unterstützung in der Bevölkerung und bewirkten entscheidende Weichenstellungen im Wohnungsbau und in der Stadtentwicklung der Zwischenkriegszeit. 

Zürich als Modellfall

Staudinger verband ihre Kritik an der Spekulation im Wohnungswesen mit den moralischen und ethischen Grundsätzen von Teilhabe und dem Teilen überhaupt. In diesem Geist argumentiert auch der rote Band von Kockelkorn, Schindler und Hirschberg und erhebt das Zürcher gemeinnützige Wohnungsbaumodell zum möglichen Vorbild für andere Städte – was auch rechtfertigt, dass das Buch nur in Englisch erscheint.

«Gemeinnützigkeit» lasse sich allerdings nicht ins Englische übersetzen, sind die Herausgeberinnen des Forschungskompendiums überzeugt – höchstens als «common utility». Mit den Begriffen «nonprofit» oder «for public benefit», die andere Übersetzer dafür verwenden, geben sie sich nicht zufrieden, da diese entweder nur auf den Verzicht auf Rendite oder auf das Gemeinwohl zielen. Im Geist von Dora Staudinger meinen die Herausgeberinnen aber das aktive Engagement. So zieht sich das Wort «Gemeinnützigkeit» kursiv gesetzt durch das ganze Buch und könnte vielleicht, wie einst der «Kindergarten», als Exportprodukt aus dem deutschen Sprachraum ins internationale Vokabular aufgenommen werden. 

Was bleibt, sind Fragen zur Übertragbarkeit und Reichweite. Kann sich die 33.3 %-Methode gegen die oder sogar innerhalb der Ersatzneubau-Euphorie der grossen Unternehmen durchsetzen? Auch hier gab Dora Staudinger vor über einem Jahrhundert guten Rat: «Jede Bewegung auf neue wirtschaftliche Formen hin muss veröden oder scheitern, wenn sie sich genügen lassen will, den alten Motor Profit auszuschalten, ohne für den Motor Gemeinschaftssinn zu sorgen.» 

ETH-Studio Jan De Vylder, Jan De Vylder, Oliver Burch, Jakob Junghanss, Lukas Ryffel (Hg.): Towards Transformation. The 33.3 % Attitude. Triest, Zürich 2024. Englisch, 232 Seiten, ca. 310 Abbildungen, 26.5 × 19.5 cm, Broschur mit offenem Rücken und Schutzumschlag, ISBN 978-3-03863-085-2, Fr. 39.–

 

Anne Kockelkorn, Susanne Schindler, Rebekka Hirschberg (Hg.): ­Cooperative Conditions. A Primer on Architecture, Finance and Regulation in Zurich. Gta Verlag, Zürich 2024. Englisch, 312 Seiten, 155 Abbildungen, 14.5 × 22 cm,  ISBN 978-3-85676-465-4, Fr. 40.–

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