Für Wer­thal­tun­gen ein­ste­hen

Grusswort des SIA-Präsidenten zum Jahreswechsel

Ein bewegtes Jahr ist zu Ende gegangen. Die veränderte Zusammensetzung des Nationalrats lässt Konsequenzen für den energiepolitischen Kurs und die Bau- und Planungspolitik der Schweiz erwarten.

Data di pubblicazione
08-01-2016
Revision
08-01-2016

Friedrich Dürrenmatt hat einst gesagt: «Angesichts drohender Katastrophen verhält sich die Menschheit wie ein Mann, der von einem zwanzigstöckigen Hochhaus hinunterspringt und bei Stock zehn ausruft: ‹Es ist ja noch nichts passiert!›» 

Nun will ich die heutige Situation nicht als Katastrophe bezeichnen, im Gegenteil. Trotzdem stehen wir gegenwärtig vor ein paar Herausforderungen, deren Lösung sehr dringlich wird. Ich denke zum Beispiel an unseren noch immer grossen Energiehunger, an die voranschreitende Klimaerwärmung, an unser disperses, noch immer sehr flächenintensives Siedlungswachstum und den daraus folgenden ­hohen Infrastrukturaufwand.

Verstärkt wird diese Herausforderung aktuell von einem wachsenden Zustrom von Menschen, die von Orten ohne Zukunft an Orte mit etwas mehr Zukunft flüchten und damit unter anderem zu uns kommen. Und diese Menschen brauchen gleichfalls ein Dach über dem Kopf, Häuser und Wohnungen, und später auch die damit verbundene Verkehrs- und Versorgungsinfrastruktur. Und was mich betrifft, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass wir diese Herausforderungen etwas zu zögerlich angehen.

Absage an die Energiesteuer-Initiative

Am 8. März des vergangenen Jahres schickte das Schweizer Volk mit 92 % Nein-Stimmen die Energiesteuerinitiative bachab. Das entspricht dem grössten Nein-Anteil in der Geschichte der Schweizer Volksabstimmungen. Eine Vorlage, die nicht zuletzt aufgrund ihrer komplizierten Verquickung mit der Mehrwertsteuer auch mich nicht zu überzeugen vermochte, deren Verfechter trotz allem jedoch das wichtige Ansinnen verfolgten, das Umsteigen von fossilen auf erneuerbare Energien zu forcieren. 

Nicht zuletzt die geänderte Zusammensetzung des National­rats dürfte für all jene mehr Gegenwind bedeuten, die an der ener­getischen und raumplanerischen Umgestaltung unseres Landes mitwirken. Entsprechend müssen der SIA und seine Mitglieder ihre Werthaltungen noch einmal stärker als bisher in die politische Diskussion einbringen.

Im September entschied der Schweizer Ständerat, dass die Investitionen für energetische Sanierungen von Gebäuden nicht mehr von den Steuern abgezogen werden können. Das ist fatal. Stehen die rund 2.5 Millionen Gebäude der Schweiz doch allein für bemerkenswerte 37 % des gesamten schweizerischen Verbrauchs an Strom und 49 % der fossilen Energie. Damit gehört das Bauwerk Schweiz auch zu den ­grössten CO2-Emittenten.

Macht man sich das bewusst und macht man sich weiterhin klar, dass die deshalb nötige, energetische Umgestaltung des Bauwerks Schweiz viel zu langsam vonstattengeht, wäre ein finanzieller Anreiz zu deren Beschleunigung auch weiterhin zielführend gewesen. Im Moment bringen wir es nämlich gerade mal auf eine Renovationsquote von 0.9 % der Gebäude pro Jahr, obwohl es mindestens 2 % sein müssten, um der Energiestrategie 2050 des Bundesrats zu entsprechen. 

Ältester Atommeiler der Welt: Beznau I

Und auch den vom Bundesrat im Rahmen der «Energiestrategie 2050» beabsichtigten Atomausstieg will der Ständerat offenbar nicht. So sprach er sich in der Herbstsession gleichfalls gegen Laufzeitbeschränkungen für unsere sechs Atom­kraftwerke aus. Selbst für Beznau I, obschon dieses 1969 gebaute Kernkraftwerk der älteste Atommeiler der Welt ist! Ein Atommeiler noch dazu, der gegenwärtig stillsteht, weil im Reaktordruck­behälter Materialfehler entdeckt wurden.

Doch all das scheint den Ständerat nicht zu beunruhigen – oder wie sagt das amerikanische Sprichwort: «Wahlkampf führt man in Poesie, regiert wird dann in Prosa.» Zumindest was den Ständerat betrifft, bewahrheitet sich diese Erfahrung. 

Einmal mehr wird damit deutlich, dass Nachhaltigkeit ein immaterielles Gut ist – ein Gut, abgeleitet aus der Gesellschaft und ihren Individuen selber. Ihr Stellenwert und ihre Wertschätzung beruhen auf einem Konsens, der stets neu erarbeitet werden muss. Oder anders formuliert: Die zukunftsfähige Gestaltung des Lebensraums ist in erster Linie und vor allem die Arbeit an den Werthaltungen der Menschen und damit eine soziale und kulturelle Aufgabe. 

Soziale Verantwortung der Ingenieure

Dementsprechend müssen wir, sprich müssen der SIA und seine Mitglieder neben dem Entwickeln und Bereitstellen von hervorragenden ingenieurtechnischen, architektonischen und raumplanerischen Lösungen die Menschen überzeugen, dass es unser aller Aufgabe ist, die Zukunft nachhaltig zu gestalten. Ja, dass es noch dazu eine spannende und schöne Aufgabe ist. Ingenieure und Architektinnen stehen wie niemand sonst an der Schnittstelle ­zwischen den Bedürfnissen und ­Ansprüchen des einzelnen Bauherrn und der Verantwortung gegenüber dem Lebensraum der Gemeinschaft. Wir sind also gefordert, Farbe zu bekennen und Verantwortung zu übernehmen. 

Dies erst recht, nachdem der Souverän im Oktober mit der Konstituierung des Nationalrats noch einmal für raueren Gegenwind gesorgt hat, was die zukunftsfähige Umgestaltung der Schweiz anbelangt. Die neue Zusammensetzung der grossen Kammer lässt jedenfalls kein grösseres Wohlwollen bei diesen Aufgaben erwarten. 

In diesem Sinn müssen der SIA und seine Mitglieder ihre Überzeugung und sachpolitische Expertise noch stärker als bisher in die öffentliche und politische Diskus­sion einbringen. Allen, die uns dabei folgen wollen und es schon in den vergangenen Jahren getan haben, danke ich von ganzem Herzen.

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