Landschaft als Vektor der Stadtentwicklung
Aus den Berufsgruppen: Architektur
Vom New Yorker Central Park zur Plaine de l’Aire in Genf: Am BGA-Tag «Architekt & Landschaft» im Herbst widmet sich die SIA-Berufsgruppe Architektur dem Thema, wie gestaltete Landschaft konstituierend für die Stadtentwicklung werden kann.
Als Frederik Law Olmsted und Calvert Vaux 1858 in Manhattan mit dem Bau des Central Parks begannen, reichte die sich unaufhaltsam ausdehnende Bebauung des städtischen Blockrasters erst bis ungefähr zwei Meilen südlich ihrer Baustelle. Der Park sollte als pittoreske Antithese dem kartesischen «Commissione’s Plan» von 1811 wie ein ungebautes Bollwerk entgegengestellt werden: ein Ausschnitt der ursprünglichen Landschaft Manhattans. Olmsted und Vaux überformen diese durch Sümpfe und Felsen geprägte Topografie mit ihrem Entwurf und ergänzen sie mit neuen Landschaftsbildern.
Schon die Devise «Greensward Plan» ihres Wettbewerbsbeitrags war Programm. «Ward» war die politisch-administrative Unterteilung Manhattans des 19. Jahrhunderts, dem Stadtbezirk entsprechend. Den Central Park zum «grünen Bezirk» zu erklären, spiegelte den Reformgedanken seiner Planer wider und schrieb dem Park eine den gebauten Bezirken ebenbürtige Bedeutung zu. Die Dichotomie der gebauten und nicht gebauten Elemente wurde als gleichwertige, die Stadt konstituierende Eigenschaft definiert.
Prototyp des städtischen Landschaftsraums
Der weitere Verlauf der Dinge ist bekannt: Das Blockraster umgab erst in den folgenden Jahrzehnten den schon längst fertiggestellten Park und definiert nun diesen grossmassstäblichen Raum, wie wir ihn heute kennen. Die zeitliche Verschiebung, der Wille und die planerische Vorausschau, ein strukturierendes Landschaftselement zu implementieren, noch bevor die marktgetriebene Stadtentwicklung an diesem Ort angelangt war, bleiben radikal und visionär. Die Fronten der angrenzenden Gebäude beziehen sich auf den Park, so wie dieser dem Strassenraum und den Häusern eine einmalige, identitätsstiftende Qualität verleiht.
Die Gegenüberstellung von Wohnbauten und städtischem Landschaftsraum wurde bald als privilegierte Lage erkannt, von der noch heute die exorbitanten Immobilienpreise zeugen. Nichtsdestotrotz verlieh der verbindende Park, der sich als Vorbild in der Praxis des Städtebaus verewigt hat, dem einzelnen Privateigentum einen Ausdruck von Kollektivität – und dadurch Urbanität.
Die Planungsgruppe Superpositions gewann 1997 den Studienauftrag für die Renaturierung des Flusslaufs der Aire im Kanton Genf. Einer Quelle in Frankreich am Mont Salève entspringend, nimmt der Fluss seinen nur rund 11 km langen Lauf vornehmlich auf Schweizer Boden. In einer landwirtschaftlich intensiv genutzten Ebene durchzieht er kleine Gemeinden und Vororte, um in der Stadt Genf in die Avre zu fliessen, die ihrerseits kurz danach in die Rhone mündet. Weite Strecken der Aire wurde in den 1920er- und 30er-Jahren kanalisiert. Ihr ökologischer Zustand war seit den 1980er-Jahren sehr schlecht, darüber hinaus stellte sie immer wieder eine Überschwemmungsgefahr für die anliegenden Dörfer dar.
In diesen Jahren befand sich der Kanton schon in seiner notorischen Wohnungsbaukrise. Einspruchsverfahren und verlangsamte Verwaltungsprozesse bremsten jegliche Dynamik, die Abhilfe hätte schaffen können. Im Windschatten dieses Stillstands nahm die Bevölkerung 1997 ein vom Kanton vorgeschlagenes Programm zur Renaturierung sämtlicher Flussläufe an. Der Studienauftrag, der der Aire gewidmet war, richtete sich an vier interdisziplinäre Teams aus Biologen, Botanikern, Hydrologen, Agronomen, Geologen und Ingenieuren unter der Federführung von Architekten. Ziele der Studie waren der Hochwasserschutz und die ökologische Sanierung, aber auch, ein hochwertiges Naherholungsgebiet zu schaffen, um die Bevölkerung wieder an den Fluss zu führen.
Drei Arten von Natur in Genf
Der Name der siegreich aus dem Studienauftrag herausgehenden Planergruppe, Superpositions, ist programmatisch – ihr Entwurf überzeugte durch die Überlagerung der drei Arten von Natur, wie sie in der Landschaftstheorie bekannt sind: Die erste, ursprüngliche Natur findet sich in einem neu geschaffenen «natürlichen» Flussbett. Die zweite, von Ingenieurshand gebaute Natur ist durch den Erhalt des Kanals weiterhin lesbar und zeugt von der Geschichte des Orts. Und schliesslich prägt die dritte Natur – die vom Menschen erschaffenen Gärten – das Projekt über seine gesamte Länge in unterschiedlichen Ausformungen. Der Fluss kann sich dabei je nach Wasserstand seinen Weg suchen und die unterschiedlichen Situationen zum Leben erwecken.
Mit der 2015 fertiggestellten Renaturierung der Aire wurde ein Landschaftselement, das der Stadtentwicklung dient, nicht nur wiederentdeckt, sondern neu definiert. Durch das Projekt wird der Landschaftsraum in die neuen Siedlungsgebiete geführt und die sich entwickelnde Stadt hinaus in die Landschaft begleitet. So beziehen sich Projekte wie der Quartiersplan «Les Cherpines» (2013) mit 3000 Wohnungen und 2500 Arbeitsplätzen – unweit der Aire-Mündung in die Avre – klar auf den angrenzenden, renaturierten Flusslauf. Die projektierten Stadtkanten richten sich auf die Auenlandschaft, die die Aire an dieser Stelle begleiten und die gewissermassen als Quartierspark «adoptiert» werden. Neue Grünzüge werden auf diesen hinführen, bestehende Sportanlagen verzahnen sich mit dem Landschaftsraum.
Es bleibt zu hoffen, dass aus der Präsenz der Aire auch im derzeit wohl ehrgeizigsten Städtebauprojekt von Genf, dem Sektor «Praille Acacias Vernet» (PAV), eine derartige Qualität gewonnen werden kann. Auf dem letzten Kilometer vor der Mündung in die Avre wird die Aire bis auf Weiteres noch überdeckelt bleiben. Hier stellen sich private Eigentumsverhältnisse und Immobilieninteressen dem kollektiven Gedanken der Stadt entgegen.
Landschaft, die Stadt strukturiert
Vielleicht kann man die lang andauernde Krise des Genfer Wohnungsbaus sogar als Segen für die neu zu erstellenden Stadtteile betrachten – denn erst dadurch, dass man sich mit dem Projekt Aire zunächst dem grossmassstäblichen Territorium widmete, kann sich die heute weiterzubauende Stadt auf einen so wertvollen Landschaftsraum beziehen.
Sowohl in New York als auch in Genf wurde ein die Landschaft strukturierendes Element zeitlich vor dem Gebauten im Raum verankert. Dies vermag die unaufhaltsame Urbanisierung wie ein Vektor zu leiten und ihr eine territoriale Sinnhaftigkeit zu verleihen. Derartig gliedernde Landschaftselemente wirken identitätsstiftend und bilden einen gemeinsamen Rahmen: sozial verbindend und der Allgemeinheit einen Wert stiftend. Öffentlichkeit und Teilhabe werden so in einer Stadtgesellschaft garantiert, die fortschreitend von Privatisierung und Segregationsprozessen geprägt wird. Strukturierende Landschaftselemente brauchen eine gewisse Grösse, um konstituierend zu wirken. Der grosse Massstab ist mit der kleinen Körnung der Gemeindegrenzen aber nicht ohne Weiteres vereinbar. Landschaftliches, also grossmassstäbliches Denken fordert die Gemeinden zur Zusammenarbeit auf und verlangt Koordination durch die Kantone oder den Bund.
Mittels Landschaft Stadt bauen
Bei den Architekten zeigt sich ein wachsendes Interesse, sich der Landschaft zu bedienen, um Stadt zu bauen oder über sie zu reflektieren. Das ETH Studio Basel veröffentlichte 2015 seine Recherche zu Stadtentwicklung strukturierenden Landschaftselementen unter dem Titel «achtung: die Landschaft. Lässt sich die Stadt anders denken?» Bezug nehmend auf die Publikation «achtung: die Schweiz» aus den 1950er-Jahren von Max Frisch, Markus Kutter und Lucius Burckhardt ist wieder einmal der Titel Programm. Weist er doch auf die Dringlichkeit und das Potenzial hin, im Schweizer Kontext mit der Landschaft zu arbeiten.
Auch der SIA beschäftigt sich verstärkt mit der Landschaft. Die Berufsgruppe Umwelt (BGU) erarbeitete im vergangenen Jahr, unterstützt durch die Berufsgruppen Architektur (BGA) und Ingenieurbau (BGI), ein «Positionspapier Landschaft», das aus Sicht des SIA deren Bedeutung für einen zukunftsfähigen und qualitativ hochwertig gestalteten Lebensraum interdisziplinär definiert.
Im kommenden Herbst veranstaltet die BGA den alle zwei Jahre stattfindenden BGA-Tag, diesmal zum Thema «Architekt und Landschaft: Landschaft als Vektor der Stadtentwicklung». Die Veranstaltung wird in Genf stattfinden. Vormittags können die Teilnehmenden unter Führung der Architekten Georges Descombes und des Ateliers Descombes Rampini die Plaine de l’Aire erwandern, die dieses Jahr die SIA-Auszeichnung Umsicht – Regards – Sguardi erhalten hat. Nachmittags erwarten wir eine angeregte Diskussionsrunde mit renommierten Mitwirkenden. Alle Berufsgruppen sind herzlich eingeladen, in Genf gemeinsam neue Potenziale der Landschaft zu entdecken.