Woh­nen sze­no­gra­fi­sch und so­zio­lo­gi­sch

Biennale Architettura 2018: Schweizer Auftritt in Venedig

Die Schweiz präsentierte bei der Eröffnung der Architekturbiennale in Venedig unterschiedliche Zugänge zum Thema Wohnen: über Bilder leerer, bezugsbereiter Wohnungen einerseits, über eine Befragung andererseits.

Data di pubblicazione
15-06-2018
Revision
15-06-2018

Bereits bevor der Schweizer Pavillon an der diesjährigen Biennale in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde, war die Begeisterung gross, auch bei der Vorstandsdelegation des SIA. Die gebaute House Tour, die Fotos von den Homepages Schweizer Architekten in eine begehbare Installation mit unterschiedlichen Massstäben übersetzt, überzeugte durch ihre witzige Verfremdung standardisierter Wohninterieurs. SIA-Präsident Stefan Cadosch kommentierte bei der Eröffnung am 25. Mai: «Das ist erfrischend und transportiert auf charmante Art einige unterschwellige Botschaften – unter anderem mit der Frage, ob die viel zitierte Vielschichtigkeit der Schweizer Architektur am Ende gar nicht so gross ist.» Vorstandsmitglied Simone Tocchetti ergänzte: «Das ist echt schweizerisch, sehr raffiniert. Alles, wogegen wir kämpfen, ist da drin.»

Auch die übrigen Vorstandsmitglieder der Delegation zeigten sich angetan. Daniele Biaggi und Daniel Meyer erfreute, dass die verzerrten Massstäbe des Pavillons auch Kindern Spass machen. Obwohl die Installation sehr eingängig sei, empfehle es sich, mehrmals in den Pavillon zu gehen, wie Urs Rieder betonte: «Das ist surreal. Die Differenzierung erfolgt nur über den Massstab.» Ariane Widmer Pham ergänzte: «Am Ende ist der Pavillon undurchdringbar. Dort erschliesst sich, dass im Biennale-Motto Freespace auch der Appell steckt: Befreit den Raum!» Anna Suter brachte den Gesamteindruck auf den Punkt: «Der Schweizer Pavillon hinterfragt den aktuellen Wohnungsbau auf eine liebevolle und doch kritische Art.»

Eine Roadshow von Pro Helvetia und SIA hatte im Vorfeld der Biennale zu «Diskussion, Reflexion und Weiterentwicklung des Projekts» ermutigt. Dass der preisgekrönte Beitrag erstmals aus einem Wettbewerb hervorging und mit Alessandro Bosshard, Li Tavor, Matthew van der Ploeg und Ani Vihervaara einem jungen, internationalen Team zu verdanken ist, machte die Freude über den gelungenen Auftritt perfekt. Am Rand der Eröffnung kam Bundespräsident Alain Berset auf Stefan Cadosch zu. Er dankte ihm für die Initiative des SIA, Baukultur als neues Politikfeld zu etablieren. Berset sagte, er werde sich weiter für den internationalen baukulturellen Dialog engagieren und zähle dabei wie bisher auf den SIA. Die Kulturbotschaft des Bundes wolle er in kleinen Schritten ausbauen; zugleich bat er aber um Geduld.

Komplementär zu Fragen des Wohninterieurs und normierter Gestaltung, die der Schweizer Pavillon aufwarf, näherte sich das Bundesamt für Kultur dem Wohnen an der Biennale von einer ganz anderen Seite. Den Ausgangspunkt bildete hier eine Befragung von 1000 in der Schweiz lebenden Personen. Die Studie zur Baukultur im Alltag ergab, dass 72 % der Befragten eine klassische Einfamilienhaussiedlung gegenüber einer (eher städtischen)  «zeitgenössischen Mehrfamilienhaussiedlung» bzw. «zeitgenössischen Wohnsiedlung» bevorzugen. Gut die Hälfte von ihnen gab ausserdem an, nicht über genügend Partizipationsmöglichkeiten zu verfügen.

Der Gesellschaft eine Stube schaffen

An einem Podium mit Bundespräsident Berset am 26. Mai im Palazzo Trevisan veranschaulichte Soziologe Felix Keller, wie wichtig es ist, solche Zahlen zu kontextualisieren. Der Mythos des Einfamilienhauses sei Ausdruck einer Sehnsucht nach Autonomie in wirtschaftlich und gesellschaftlich unsicheren Zeiten. Die Untersuchung zeige jedoch, wie nah die Bedürfnisse der Befragten am Manifest zur Baukultur liegen, das der SIA 2011 herausgegeben hat. Die «saubere, gepflegte und ruhige Umgebung», die für die Befragten das Wichtigste ist, stimme mit dem im Manifest formulierten Ideal überein, der Gesellschaft eine «Stube» zu schaffen. Keller plädierte dafür, an bestehende kollektive Bilder anzuknüpfen und sie weiterzuentwickeln. Die «schon fast rituelle ­Beschimpfung der Schweizer Bevölkerung durch ihre Experten» helfe dagegen nicht, denn «Verändern beginnt auch mit Verstehen».

Schweizer Pavillon und Salon Suisse:
prohelvetia.ch/de/2018/05/biennale-architettura-2018

Articoli correlati