«Wir for­dern ei­ne Grund­la­gen­for­schung zur bau­kul­tu­rel­len Bil­dung»

Archijeunes ist ein Projekt von SIA und BSA und verfolgt das Ziel, baukulturelle Bildung im hiesigen Bildungscurriculum zu verankern. Mitte September lud der Verein 50 Baukulturvermittelnde aus dem deutschsprachigen Raum zu einem zweitägigen Treffen ins Zentrum Architektur Zürich ZAZ ein. Sie gingen der Frage nach, was baukulturelle Allgemeinbildung beinhalten soll und wie sie vermittelt werden kann. TEC21 traf Archijeunes Geschäftsführerin Kathrin Siebert und Präsident Thomas Schregenberger zu einem Resümee.

Data di pubblicazione
13-10-2021


TEC21: Frau Siebert, Herr Schregenberger, welche Elemente sollte baukulturelle Bildung bei uns in der Schweiz umfassen?

Kathrin Siebert: Wir von Archijeunes verstehen den Begriff Baukultur so, wie er in der Deklaration von Davos 2018 von den Kulturministern aller Europäischen Staaten formuliert und verabschiedet wurde. Welche Elemente nun aber zur baukulturellen Allgemeinbildung gehören und wo sie in der Schule angesiedelt werden soll, darüber wurde und wird auch in Zukunft noch heftig diskutiert. Mit unserem roten 400-seitigen Buch, das im Dezember letzten Jahres erschienen ist, haben wir versucht, die «Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung» zu benennen und zur Diskussion zu stellen. Im Moment arbeiten wir an der Stellungnahme zur Überarbeitung des Rahmenlehrplans im Projekt «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität». Dabei versuchen wir, nicht nur die Anknüpfpunkte zu baukulturellen Themen in den klassischen Fächern Geschichte, Sprache und bildnerisches Gestalten aufzuzeigen, sondern vor allem auch die bereits enthaltenen Bezugspunkte in der Geografie zu stärken und durch konkrete Beispiele zu veranschaulichen.


TEC21: Wird die Frage nach baukultureller Bildung in den einzelnen Ländern der Referentinnen, die an der Tagung teilnahmen, unterschiedlich betrachtet? Gerade das Beispiel Finnland scheint sich von der Schweiz abzuheben.

Thomas Schregenberger: Finnland gilt seit mehr als zwei Jahrzehnten als Vorreiter für baukulturelle Bildung. Schon 1998 entwickelte es eine offizielle Architekturpolitik, in der baukulturelle Allgemeinbildung eine prominente Stellung eingeräumt wurde. Erklärtes Ziel war es schon damals, und das fordert Archijeunes auch für die Schweiz, baukulturelle Allgemeinbildung in den Schulen fest zu verankern. Da sind wir noch weit davon entfernt und unser föderalistisches Bildungssystem macht es auch nicht einfach. Mit unserer Plattform unterstützen wir Lehrerinnen und Lehrer im Klassenzimmer, vernetzen Baukulturvermittelnde, betreiben eine Mediothek und informieren über Aktualitäten und Anlässe. Unsere Plattform ist teilweise vergleichbar mit der finnischen Plattform, von der die Referentin Dr. Turit Fröbe meinte, dass deren Gründung im Jahre 2013 als einer der bedeutendsten Erfolge der finnischen Architekturpolitik gewertet werden kann.


TEC21: Noëlle von Wyl von der Pädagogischen Hochschule Schwyz hat an der Netzwerktagung die Publikation «Kinder erkunden die lokale Baukultur» vorgestellt. Was beinhaltet diese?

Kathrin Siebert: Die Publikation «Kinder erkunden die lokale Baukultur» wird im Frühjahr 2022 erscheinen und ist ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung neuer Unterrichtskonzepte zur Vermittlung von Baukultur in der Schweiz. Die Autorinnen Noëlle von Wyl, Lea Weniger und Barbara Windholz zeigen auf, wie baukulturelle Bildung in den öffentlichen Schulen der Schweiz kompetenzorientiert und fächerübergreifend vermittelt werden kann. Die Wahrnehmung und Erkundung der örtlichen Baukultur, das Sammeln von Fundstücken und die Vermittlung von Orientierungs- und Verfahrenswissen sowie die Verarbeitung der Eindrücke über Entwürfe und Modelle führen Schüler und Schülerinnen zur Realisierung von gestalterischen Kreationen, die die Gruppe diskutiert und bei den Kindern und Jugendlichen Anreize für partizipative Prozesse in der Wohnumgebung bilden können. Genau solche Lehrmittel braucht es, um Lehrpersonen zu inspirieren, dieses vielseitige und spannende Thema in ihren Unterricht zu integrieren.


TEC21: In welchem Rahmen sind Kinder und Jugendliche ihrer Meinung nach befähigt, einen Input zur Gestaltung der Umwelt zu leisten? Beschränkt sich das baukulturelle Engagement auf theoretische Fragen, oder gibt es auch reale Umsetzung?

Thomas Schregenberger: Klar können Kinder einen Input zur Gestaltung der Umwelt leisten, das machen sie schon heute. Wenn sie aber mit ihrer Frage implizieren, dass Kinder eventuell Fachleute wie Architekten, Ingenieure, Stadtplaner oder Landschaftsarchitekten ersetzen könnten, verneine ich das klar. Es ist wie bei der Musik. Auch wenn Sie in der Schule Musikunterricht hatten, befähigt Sie das noch lange nicht, bei einem Sinfoniekonzert mitzuwirken. Es ermöglich Ihnen aber, und das ist wichtig, das Konzert intensiver wahrzunehmen und kompetenter zu kritisieren. Roland Reichenbach, Professor für allgemeine Erziehungswissenschaften an der Universität Zürich, hat es im Buch «Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung» wie folgt dargelegt: «Es wird bei der baukulturellen Allgemeinbildung um Aneignung von Wissen, Verfeinerung der Wahrnehmung und Entwicklung von Urteilskompetenzen hinsichtlich lebensraumprägender Artefakte gehen». Er fügte hinzu, dass baukulturelle Allgemeinbildung nichts anderes sein kann als ein «Sich-zu-seinen-Lebensverhältnissen-in-ein-Verhältnis-setzen».


TEC21: Die Referentin Päivi Kataikko-Grigoleit von der TU Dortmund hat als Leiterin des JAS-Zentrums in Essen eine Expertise für die «Phase 0» im Schulbau entwickelt. Was hat es damit auf sich?

Kathrin Siebert: Bei unserer internationalen Netzwerktagung im ZAZ in Zürich ging es um die «Perspektiven der Vermittlung» und die Frage, wie Kindern und Jugendlichen baukulturelle Allgemeinbildung gelehrt werden kann. Dazu gibt es einen bunten Strauss von Methoden. Eine davon ist, Kinder an Planungsprozessen von Schulen, Kinder- und Jugendhäusern oder Spielplätzen zu beteiligen. Für den Verein Jugend Architektur Stadt JAS, in verschiedenen Städten Deutschlands tätig, stellt neben der Vermittlung von baukultureller Allgemeinbildung, die Moderation der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Planungsprozessen einen wichtigen Baustein ihrer Arbeit dar. Über die Möglichkeiten aber auch die Grenzen dieser Arbeit zu erfahren, war für uns sehr wichtig.


TEC21: Wie konkret trägt Archijeunes bei uns dazu bei, Baukultur an Schulen und in Quartieren zu thematisieren?

Thomas Schregenberger: Wir verstehen uns als nationale Institution, die Kräfte bündelt, auf unserer Plattform Unterrichtseinheiten für Lehrpersonen zur Verfügung stellt, Netzwerktagungen organisiert, bildungspolitische Forderungen stellt und die verschiedenen, meist lokalen Akteure vernetzt und ihnen eine Stimme gibt. Dazu haben wir 2019 den «Langen Tisch baukulturelle Bildung Schweiz» ins Leben gerufen, an dem alle grösseren Institutionen der Schweiz vertreten sind, welche baukultureller Bildung vor Ort betreiben. Gemeinsam wollen wir innerhalb und ausserhalb der Schule die Bildung über die gebaute Umwelt fördern, Synergien nutzen und baukulturelle Bildung in der Gesellschaft verankern. Die private Initiative von Archijeunes und vielen anderen Institutionen und Personen im In- und Ausland kann die gesellschaftliche Verantwortung aber nicht ersetzen. Es braucht die staatlichen und politischen Institutionen mit ihren Ressourcen, um eine breite und nachhaltige Wirkung zu erreichen.


TEC21: Monika Abendstein von der Kunst- und Architekturschule «bilding» in Innsbruck, gründete das «Schulhaus für Architektur» mit dem Zweck, Baukultur zu erforschen. Sie möchte mit ihrem Team die kommende Generation so bilden, dass sie in der Lage ist, frühere gemachte Fehler zu korrigieren. Ist das nicht etwas ambitioniert?

Thomas Schregenberger: Ich glaube, man kann in dieser Sache nicht ambitioniert genug sein. Die Aufgaben, die sich uns und den kommenden Generationen stellen, sind riesig. Denken Sie an Bevölkerungswachstum, Probleme und Folgen des Klimawandels, Migration, an die Verdichtung von Städten und Siedlungsgebieten, die zunehmend fehlenden Möglichkeiten zur Identifikation und den überbordenden Verkehr. Um all diese Probleme zu lösen, brauchen wir eine informierte Zivilgesellschaft. Sie muss in demokratischen Prozessen verantwortliche Entscheidungen über unsere gestaltete Umwelt herbeiführen, und dafür braucht sie Wissen.


TEC21: Was sind die nächsten Ziele von Archijeunes?

Kathrin Siebert: Erklärtes Ziel von Archijeunes ist es, baukulturelle Bildung im schweizerischen Bildungscurriculum zu verankern. Um das zu erreichen, braucht es den politischen Willen und die Einsicht, dass neben der natürlichen Umwelt die gebaute Umwelt für unser Wohlbefinden von grosser Bedeutung ist. Das ist unsere politische Arbeit. Als Ingenieure, Architektinnen und Planerinnen sind wir aber auch aufgefordert, mit den Pädagogen die «Elemente einer baukulturellen Allgemeinbildung» zu benennen und eine Systematisierung des Wissens im Bereich der baukulturellen Bildung zu erarbeiten. Wir von Archijeunes fordern eine fächerübergreifende Grundlagenforschung zur baukulturellen Bildung. Noch aber geht es darum, die Lehrerpersonen im Klassenzimmer zu unterstützen, die Pädagogischen Hochschulen für die baukulturelle Bildung zu begeistern, baukulturelle Bildung im Rahmenlehrplan der Gymnasialstufe zu verankern und uns in die Diskussion um die Weiterentwicklung des Lehrplan 21 einzubringen. Es gibt noch viel zu tun. Wir sind froh um Unterstützung von jeder Seite.

Weitere Informationen zum Verein:

archijeunes.ch

 

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