Wo Unorte zu Orten werden und Kinder zu Experten
Auch ein Parkplatz ist Teil der Baukultur und verdient es, differenziert betrachtet zu werden. Es lohnt sich deshalb, genau hinzuschauen. Die Webplattform baukulturschweiz.ch fördert diese Auseinandersetzung mit dem gestalteten Lebensraum. Auf der Plattform können nun alle, auch Kinder, Projekte bewerten
Mit dem Thema Baukultur verhält es sich in etwa wie mit dem Essen und dem Kochen. Bei Letzterem gibt es einige wenige Koryphäen, die für ihre Kochkünste mit Gault Millau-Sternen ausgezeichnet werden. Täglich kochen tun aber ganz viele, einige davon beruflich, experimentierfreudig oder beherzt. Andere würden das Kochen lieber delegieren, und trotzdem stellen sie jeden Tag ihrer Familie etwas Zubereitetes hin – zur Not einfache Spaghetti. Und auch wer nicht kocht, hat eine Vorstellung davon, was gutes Essen ist, was ihm oder ihr schmeckt.
Ebenso gibt es in der Baukultur einige wenige Expertinnen und Experten; Planende setzen sich täglich mit dem gestalteten Lebensraum auseinander. Wir alle haben aber eine Vorstellung davon, welche Orte uns gefallen – und welche weniger. Genau hier setzt der Runde Tisch Baukultur Schweiz an. Er will das Gespräch über den gestalteten Lebensraum fördern und spricht gezielt auch vermeintliche Laien an.
Denn alle sind wir Teil der Baukultur. Wir prägen den gestalteten Lebensraum, und er prägt uns. So schwingt bei der Frage nach einer hohen Baukultur auch immer die Frage mit: «Wie wollen wir leben?» Baukulturschweiz.ch vernetzt Akteure von der lokalen bis zur internationalen Ebene und dient als Quelle für Wissen, Austausch und Inspiration.
Versteckte Qualitäten finden
Baukulturelle Beispiele finden sich bei den «Case Studies». Baukulturschweiz.ch kuratiert jährlich zwanzig Projekte, die unterschiedlicher nicht sein könnten: der Gotthard-Basistunnel, eine Kindertagesstätte in Sitten, das Einkaufszentrum «Shoppi Tivoli» in Spreitenbach, eine Autowaschanlage oder der Landsgemeindeplatz in Zug.
Nicht jede dieser planerischen Lösungen gilt gemeinhin als gelungen. Doch bei näherer Betrachtung mit dem jeweiligen Ort offenbaren sich versteckte Qualitäten. Seit vergangenem Dezember lädt baukulturschweiz.ch auch die Allgemeinheit dazu ein, eigene Projekte als «Case Studies für alle» hochzuladen.
Wie die kuratierten Orte entfalten sich auch die «Case Studies für alle» entlang der acht Kriterien des Davos Qualitätssystems für Baukultur: Gouvernanz, Funktionalität, Umwelt, Wirtschaft, Vielfalt, Kontext, Genius loci und Schönheit. Die erste Fallstudie für alle stammt von René Jähne vom Nationalen Forschungsschwerpunkt (NFS) Digitale Fabrikation der ETH Zürich zum DFAB House, NEST, der Empa in Dübendorf.
Gerade die Hochschulen schätzen die Möglichkeit, Case Studies einzureichen. So haben Boris Szélpal von der Berner Fachhochschule BFH sowie Janine Kern von der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW ihre Studierenden mit dem Erarbeiten von Case Studies beauftragt. Anfang Juni traf sich die Kerngruppe von baukulturschweiz.ch mit den Autorinnen und Autoren der neuen Case Studies zu einem Workshop, um Erfahrungen auszutauschen. Insbesondere der Austausch über die Kriterien des Davos Qualitätssystems für Baukultur erwies sich als spannend.
Kontext, Schönheit und Funktionalität
Das DFAB House in Dübendorf fungiert als Forschungs-, Demonstrations- und Innovationsplattform, um neue, nachhaltige Lösungen für die Bauindustrie zu entwickeln. So werden immer wieder neue Technologien, Materialien und Systeme unter realen Bedingungen erforscht und validiert. Das Gebäude ist folglich im Wandel und setzt sich dadurch auch immer wieder in Kontrast zu seinem Umfeld.
Janine Kern von der FHNW Muttenz hat sich mit ihren Studierenden des zweiten Semesters im Bachelor Architektur mit vermeintlichen Unorten auseinandergesetzt, die vor allem funktional sind. Die Studierenden sollten nach Gelungenem suchen und die Unorte dadurch zu Orten machen. Die Unterführung Birsfelderstrasse in Muttenz beispielsweise dient dem Fuss- und Fahrradverkehr zur sicheren Unterquerung der vielbefahrenen Birsfelderstrasse.
Bei genauem Hinschauen fanden die Studierenden auch Elemente der Schönheit, insbesondere in der spannenden Lichtsituation. So halten die Studierenden fest: «Vor der Unterführung stehend, geht der Blick ins Dunkle. Das Ende ist aber bereits um die Kurve sichtbar. Ein leichtes Gefälle zieht einen förmlich in den kurzen Tunnel, der auf halbem Weg ein weiterer Lichteinfall zulässt über ein rundes gebogenes Oberlicht und zwei seitliche Treppenaufgänge.»
Genius loci und Vielfalt
Eine Studierendengruppe rund um Boris Szélpal von der BFH Burgdorf hat für ihre baukulturelle Analyse das Kulturzentrum Reitschule in Bern gewählt. Die Gruppe setzt sich damit bewusst mit einem umstrittenen Projekt auseinander. Dabei gelingt es ihr, durch die historische Kontextualisierung den Genius loci des Projekts festzumachen: Mit dem Siegeszug des Autos wurden die Stallungen und Kutschenstellplätze der Reitschule zu einem Lager umgenutzt. In den 1980er-Jahren besetzte die autonome Szene das Gebäude und entwickelte es fortan zu einem kulturellen Zentrum. Obwohl der Ort immer wieder im Zentrum von Konflikten und politische Debatten steht, konnte die Reitschule ihr architektonisches Erbe bewahren und zeigt sich heute auch als Ort, der die Gleichberechtigung und die kulturelle wie politische Vielfalt fördert.
Umwelt und Wirtschaft
Nora Al-Momani, ebenfalls von der BFH, sieht bei ihrer Analyse zum Freibad Marzili in Bern das Kriterium Umwelt hinsichtlich verantwortungsvoller Bodennutzung als erfüllt: «Das Freibad Marzili nutzt die natürlichen Gegebenheiten des Aareufers, inklusive des Flusses selbst. Die grossflächig angelegten Liegewiesen mit altem Baumbestand sowie die seit dem Jahr 1782 ununterbrochene, nachhaltige Nutzung des Geländes sprächen für eine kontinuierlich umweltbewusste Bodennutzung.»
Das DISPO, eine ehemalige Kesselhalle in Nidau, beschreibt Benjamin Neuenschwander von der BFH als eigenständigen Ort, der auf Kreislaufwirtschaft setzt. Fast alles im DISPO ist wiederverwendet, wie Toiletten von der Bauteilbörse oder reparierte Küchengeräte. Das DISPO ist ein Forschungsprojekt, eine Entdeckungsreise und ein Zwischenraum, der den interdisziplinären Austausch zwischen Kultur, Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Innovation und Gesellschaft betont.
Gouvernanz
Seit dem 27. Juni öffnet sich baukulturschweiz.ch mit den «Case Studies für Schülerinnen und Schüler» einem weiteren Zielpublikum. In Kooperation mit Lea Weniger von der Pädagogischen Hochschule Schwyz entstand dieses Tool, um das Angebot auch an allgemeinbildenden Schulen zu etablieren.
Erprobt hat Weniger die Case Studies für Schülerinnen und Schüler bereits mit einer Primar- und einer Sekundarklasse. Die Klassen haben ihr jeweiliges Schulhaus bewertet. Nicht unerwartet kommt dem Hauswart eine wichtige Rolle bei der Bewertung zu, denn er pflege und putze das Schulhaus und mähe den Rasen.
Gerade dieses jüngste Angebot, das am Workshop in einer Vorschau gezeigt wurde, erachteten die Beteiligten als wichtig. Die Schulhausbeispiele zeigen eindrücklich, dass jeder und jede Nutzerin oder Nutzer eines Orts ist, doch unterscheiden wir uns alle in unserem Nutzungsverhalten und unserer Perspektive auf den Ort. Ob man ein Schulhaus als Schülerin, als Lehrperson oder als Hauswart betritt, hat einen grossen Einfluss darauf, wie man den Ort wahrnimmt.
Baukultur ist folglich nichts Festgeschriebenes, sondern pluralistisch. Baukultur verbindet und will ausgehandelt werden, sucht den Dialog und lässt Schönheiten entdecken, wo auf den ersten Blick keine zu erahnen sind. Baukultur betrifft uns alle, weil wir Baukultur auch in unserem Nutzungsverhalten mitgestalten. So werden bereits Kinder zu Baukultur-Expertinnen und Experten.
Weitere Informationen
baukulturschweiz.ch