SIA: «Stadt denken heisst kollektiv denken»
Ariane Widmer Pham wurde auf der letzten Delegiertenversammlung in den Vorstand des SIA gewählt. Bestens vertraut mit aktuellen Fragen der Raumplanung, verfolgt sie aufmerksam den Urbanisierungstrend in der Schweiz und die Konsequenzen, die sich daraus ergeben.
Nicole Schick: Welche Themen möchten Sie als Vorstandsmitglied des SIA vorantreiben?
Ariane Widmer Pham: Ich glaube, der SIA muss sich stark in Fragen der Raumplanung und im derzeitigen Verstädterungsprozess der Schweiz engagieren. In diesem Sinn hoffe ich, dass ich im Vorstand einen Beitrag zu den Überlegungen und Massnahmen im Zusammenhang mit Ballungsräumen und der sich vollziehenden Raumentwicklung leisten kann. Die Schweiz befindet sich zurzeit in einem Umbruch, bedingt durch das Bevölkerungswachstum und den damit verbundenen Entwicklungsdruck auf das Territorium. Wir müssen mit dieser Urbanisierung umgehen und sie steuern. Nur ein interdisziplinärer Ansatz wird hier zum Erfolg führen; ein sektorales, auf eine Disziplin eingeengtes Denken greift zu kurz. In diesem Prozess spielen Architekten und Ingenieure eine wichtige Rolle. Sie müssen eng zusammenarbeiten und mit anderen Akteuren eine integrative Vorgehensweise erproben. Stadt denken heisst kollektiv denken. Wir müssen uns wieder um die Gestalt der Stadt kümmern, ihren Sinn hinterfragen. Es geht nicht mehr um Erweiterungsstrategien, sondern um Rückgewinnung und Transformation bereits angetasteter Orte. Dies macht auch die Erhaltung von Freiräumen möglich.
Glauben Sie, dass alle Akteure, seien es Auftraggeber, Politiker oder Bürger, bereit sind, auf diese Weise zu arbeiten? Und mit welchen Mitteln kann man die interdisziplinäre Arbeit fördern?
A.W.P.: Gute Frage
Eine Möglichkeit, ein günstiges Umfeld zu schaffen, ist das Denken in Projekten. Man muss das Projekt als etwas Umfassenderes verstehen, es über die Zeit betrachten und auf mehreren Ebenen. Wer Projekt sagt, meint Prozess, Leitung, Team, gemeinsames Ziel und politisch-technische Struktur, die dem Ausmass seiner Komplexität gerecht werden. Wir müssen Projekte in all ihren Dimensionen anpacken und von der alleinigen Logik der Zweckbindung loskommen.
Sie sind Architektin und Raumplanerin, Sie plädieren für Räume der Leere wie der Dichte. Im Vorstand des SIA vertreten Sie die Berufsgruppe Umwelt (BGU). Liegt Ihnen das?
A.W.P.: Ich habe mich gefragt, ob ich als Architektin und Raumplanerin überhaupt in der Lage bin, die BGU zu vertreten. Ja, wer beruflich in der Dimension Raum arbeitet, setzt sich zwangsläufig mit den Begriffen Leere und Dichte auseinander. Die mal naturbelassene, mal bebaute Landschaft muss im Gleichgewicht sein. Zudem ermöglicht die dichte und gemischte Stadt, die Auswirkungen auf den nicht bebauten Raum zu verringern und ihn so zu erhalten.
Welchen Platz nimmt die Frau heute in der Planung ein?
A.W.P.: Die Anwesenheit von Frauen ist wichtig. Ich stelle fest, dass Frauen im Bereich Raum- und Stadtplanung zahlreich vertreten sind. Wenn ein Projekt Erfolg haben soll, dann ist aber vor allem Teamarbeit wichtig.
Welchen Einfluss kann Raumplanung darauf haben, Arbeit und Familie in Einklang zu bringen?
A.W.P.: In der aktuellen Weise, Stadt und Landschaft zu gestalten, kristallisiert sich eine neue Dimension heraus, die sich meiner Meinung nach verstärken wird: Das ist die Idee der Nähe, verknüpft mit einer gewissen Dichte und Mischung in funktionaler, sozialer und generationenübergreifender Hinsicht. Wenn es uns gelingt, Stadtteile zu errichten, in denen das Wohnungsangebot abwechslungsreich ist und die vielfältige Nutzungen erlauben, machen wir den Menschen das Leben nicht nur leichter, sondern bereichern es auch. Positive Beispiele in periurbanen Räumen belegen: Je mehr durch die Entwicklung neuer gemischter Quartiere verdichtet wird, desto bedeutender werden die Beziehungen innerhalb dieser Räume, und desto mehr relativiert sich die Dominanz der Kernstadt. Wenngleich man bestimmte Funktionen nur im Stadtzentrum erfüllen kann, ensteht mehr Nähe in den Vorstädten, wenn sich dort das Lebens intensiviert.
Sie sind die Projektleiterin für die Umsetzung des Leitbilds Lausanne West (Schéma directeur de lOuest lausannois SDOL), die Planung und Aufwertung dieses Gebiets in einer konzertierten Aktion der acht Gemeinden, aus denen es sich zusammensetzt. Was haben Sie bei dieser Arbeit gelernt? Lassen sich Dinge auf andere Regionen übertragen?
A.W.P.: SDOL entstand, als man Anfang der 2000er-Jahre begann, Agglomerationspolitik als Aufgabe der nationalen Politik wahrzunehmen. Früher als anderswo ging SDOL daran, solche Projekte in einer interkommunalen Dynamik aufzuarbeiten. Im Fall von SDOL war der Weg also die Schaffung eines Büros zur Umsetzung der von der Politik beschlossenen Ziele; andernorts fand man andere Antworten, aber SDOL hatte zweifellos eine Pilotfunktion. Heute profitieren wir gegenseitig von gesammelten Erfahrungen. Und die Aufgaben haben sich weiterentwickelt. Die Frage der Mobilität spielt weiterhin eine zentrale Rolle, die Umweltfragen haben an Bedeutung gewonnen, neu wurde das Aufgabengebiet des Denkmalschutzes eingeführt. Die Verleihung des Wakkerpreises im Jahr 2011 als Anerkennung der von den Gemeinden im Westen Lausannes umgesetzten Massnahmen war eine Ermutigung, diesen Weg weiterzugehen.
Welchen Wert hat das Erbe eines Gebiets wie dieses, das aus zahlreichen Brachflächen besteht?
A.W.P.: Lausanne West hat viele Gesichter. Wie in anderen periurbanen Räumen gibt es ein Erbe, das man üblicherweise nicht zu schätzen weiss Zeugen einer industriellen Vergangenheit, Grosssiedlungen, kleine Arbeiterhäuschen. Diese Orte verdienen es, mit anderen Augen betrachtet zu werden. Will man einen guten Stadtteil planen, gestaltend in eine Landschaft eingreifen, muss man sie lieben und ihre spezifischen -Eigenschaften werten. Im Westen Lausannes wie auch anderswo gibt es eine Menge verborgener Schätze. Das Vorgehen der Gemeinden von Lausanne West lässt sich auf zahlreiche andere Peripherien der Schweiz übertragen.
Wie vermittelt man den Bürgerinnen und Bürgern Sichtweisen, die sein Verständnis unserer natürlichen und bebauten Umwelt fördern?
A.W.P.: Der Bürger ist anspruchsvoll, er wird zu einem immer wichtigeren Akteur, der im Übrigen ein Projekt zum Stillstand bringen kann. Die Umgestaltung unserer Umwelt betrifft alle. Darüber zu debattieren ermöglicht, sich gemeinsam eine Meinung zu bilden und diese weiterzuentwickeln. Partizipationsverfahren sind ein weiterer Handlungsansatz. Die Einstellung der Bevölkerung gegenüber Veränderungen ist keine feste Grösse, sie entwickelt sich im Zuge von Erfahrungen und Austausch.
Sie teilen also die Haltung des SIA, die zeitgenössische Baukultur in der Kulturbotschaft des Bundes zu verteidigen?
A.W.P.: Ich unterstütze ganz klar die Kulturbotschaft, wie sie vom SIA vertreten wird. Auch hier kommen wir zu transdisziplinären und integrierten Vorgehensweisen. Ein Themenkreis, der der Baukultur gewidmet ist, muss in dieser Botschaft herausgearbeitet werden.
Sie jonglieren zwischen verschiedenen Ebenen: Architektur/Stadtplanung, lokal/national, Berufsleben/Familienleben was ist dabei Ihr Antrieb?
A.W.P.: Gleichzeitig auf mehreren Ebenen zu arbeiten fasziniert mich. Das Projekt auf verschiedenen Stufen zu betrachten bedeutet, seine zeitliche Dimension, also seinen Prozess zu erfassen. So verleiht man ihm Erfolgschancen.
Auf welche Etappen Ihrer Laufbahn blicken Sie gern zurück?
A.W.P.: Meine Laufbahn ist geprägt von zehn Jahren Erfahrung in der Architektur, fünf Jahren Erfahrung in der Raumplanung, fünf Jahren im Management komplexer Projekte bei Expo.02. Alle diese Dimensionen fliessen heute in meine Arbeit ein.
Und der SIA?
A.W.P.: Der SIA ist ein Garant für Professionalität, für Qualität und für Berufsethos. Ich setze mich für ihn ein, um zu diesem Engagement beizutragen, und ich freue mich, dass ich dadurch meinen Wirkungskreis auf nationaler Ebene ausweiten kann. Was ich sehr begrüsse: Der SIA hat das lang herrschende Sektorendenken der planenden Disziplinen hinter sich gelassen und propagiert ein komplexes Verständnis von Bau und Landschaft. Er steht für ein integratives Vorgehen aller Akteure der Raumplanung und Architektur und entwickelt eine politische Dimension, die ihn zu einem sehr beachteten Akteur auf Landesebene macht.
Ariane Widmer Pham wurde 1959 in Sion geboren und erwarb ihr Diplom in Architektur bei Luigi Snozzi an der EPFL. Nach dem Studium schärfte sie ihr berufliches Profil unter anderem bei Z Architectes in Sierre und Lausanne, bevor sie sich immer stärker der Stadtplanung zuwandte. Nach mehreren Jahren im Dienst der Behörden für Raumentwicklung des Kantons Waadt wurde sie Stellvertreterin des technischen Direktors und Chefdesignerin in der technischen Direktion von Expo.02. Seit 2003 ist sie die Geschäftsleiterin des Bureau du SDOL (Schéma directeur de l’Ouest lausannois). Seit Mai 2014 ist Ariane Widmer Pham Mitglied des Vorstands des SIA.