Europas grösste Bahnmodellanlage in Spur 0
Die Erlebniswelt Toggenburg in Lichtensteig SG beherbergt Europas grösste Spiel- und Hobbyeisenbahn in Spur 0. Vor Panoramabildern des Alpsteinmassivs drehen bis zu 15 Züge gleichzeitig ihre Runden. In der aktuellen Sonderausstellung sind auch Oldtimer-Eisenbahnmodelle aus Holz und eine grosse Holzmaschine à la Tinguely zu sehen.
1300 m Schienen, 30 Lokomotiven, 222 Personenwagen, 211 Güterwagen, 13 gleichzeitig fahrende Züge von 4 bis 10 m Länge, ein 22 m langes Bahnhofareal mit 26 Gleisen, 650 Oberleitungsmasten, 1000 Lämpchen – und das auf einer Ausstellungsfläche von 500 m2. Das sind die Superlative, aus denen die grösste Hobby-Eisenbahnanlage Europas im Massstab 1:45 gebaut ist. Der Fahrbetrieb der Anlage wird mit Technik aus den 1960er-Jahren betrieben.
Die Fahrzeuge der Holzbahn sind in Handarbeit aus unterschiedlichen Holzarten wie Linde oder Essigbaum gefertigt. Sie erhalten ihre Energie aus Akkus und werden mit Fernsteuerungen auf dem dreigleisigen Doppeloval betrieben.
Die Geschichte einer Leidenschaft
Die Geschichte dieser Modellbahnanlage hängt eng mit der Unternehmerfamilie Weibel aus Ebnat-Kappel zusammen, mit der Passion von Vater und Sohn für die Welt der Eisenbahnen. Das lebhafte Geschehen im Wirrwarr der Gleise lässt erahnen, wie die Augen des kleinen Ludwig Weibel an Weihnachten 1942 leuchteten, als er einen Schienenkreis, eine Lokomotive und ein paar Wagen geschenkt bekam.
Doch Paul Weibel und sein Filius hatten Grösseres im Sinn. Sie träumten von einer ausgedehnten Anlage mit zahlreichen Weichen, Schienen, Signalen und vielen gleichzeitig fahrenden Züge. Nach ihrem Umzug nach St. Gallen im Jahr 1945 machten sie sich daran, die Anlage zügig auszubauen, und dekorierten sie mit Häusern, Bahnhöfen, Bäumen und Tunnels. Alles war demontierbar, damit man es wieder verstauen konnte, denn es war ja eine Spieleisenbahn und keine Modelleisenbahn im heutigen Sinn.
Und so entstand ab diesem Zeitpunkt die grösste Hobby-Eisenbahnanlage Europas, vermutlich sogar weltweit, in Spur 0, das heisst mit einer Spurweite von 32 mm. Vater und Sohn Weibel bauten die Anlage bis ca. 1966 in Zusammenarbeit mit den Schweizer Spielzeugeisenbahnherstellern HAG (St. Gallen/Mörschwil) und BUCO/Bucherer (Diepoldsau) immer weiter aus.
Auf dem Weg zum Publikumserfolg
Bereits 1947 wurde die damals noch kleine Eisenbahnanlage im Rahmen des Jubiläums «100 Jahre Schweizer Eisenbahnen» in der Tonhalle St. Gallen vorgeführt und weckte grosses Interesse. 1953 zogen die Weibels nach Gossau um. Auf dem 33 m langen Dachboden der familieneigenen Textilfabrik wuchs die Anlage weiter an. Als der nächste Ausstellungstermin im Jahr 1957 in der Olma-Halle feststand, wurde noch intensiver weitergebaut und verbessert. Auch Landschaften, Berge, Tunnels und Häuser kamen dazu.
Bis zur Gewerbeausstellung in Gossau 1966 hatte die Anlage ihre heutige Grösse von 40 m x 12 m erreicht – eine Fläche von fast 500 m2. Auch die Technik mit einer rotierenden Steuertrommel, die als Speichermedium dient und Funktionen wie Blockstellen, Weichenschaltungen und Beleuchtungen automatisch steuert, war zu diesem Zeitpunkt fertiggestellt.
Neun Jahre später wurde die Anlage zur Eröffnung des Einkaufszentrums Glatt in Wallisellen nahe der Stadt Zürich auf einem Parkdeck aufgebaut. Bis zu dieser vierten Ausstellung war dann auch die Landschaftsgestaltung weit fortgeschritten und man konnte von einer Modellbahn sprechen. Die ganze Anlage wurde mit Grasmatten, 1500 Tannenbäumchen, einem kleinen See, mit Häusern und Fabriken gestaltet. Als Hintergrund diente ein gemaltes Bild vom Alpstein- und Säntismassiv, das an einem Drahtseil aufgehängt war.
Eine Periode der Ruhe
Nach Abschluss der Ausstellung im Glattzentrum wurde die Anlage in Kisten verpackt und im Estrich der Weibel’schen Fabrik eingelagert. Wegen des Aufwands, der mit einer Ausstellung verbunden ist, bestand während Jahren keine Absicht, die Anlage erneut öffentlich zu zeigen. Als 1987 die Fabrikliegenschaft verkauft wurde, entschloss sich Ludwig Weibel aus Platzgründen, die Landschaftselemente zu entsorgen, die für den technischen Betrieb überflüssig waren.
Nur ein paar Monate später fragte die Direktion der Olma-Messe, ob die Anlage noch existiere. Das führte dazu, die Bahnanlage aus Anlass der ersten Modellbau- und Spielwarenausstellung 1989 und ein Jahr später zum letzten Mal an der Hauswirtschaftsfachausstellung HAFA in Wiesbaden mit nur wenig schmückendem Beiwerk zu präsentieren. Danach lagerte sie jahrelang in Zürich und wurde zum Verkauf ausgeschrieben, Ludwig Weibel wollte sich von der Anlage trennen.
Als im Jahr 2002 die Idee aufkam, die Anlage ins Toggenburg zurückzuholen, sprang der Funke auf begeisterte Eisenbahnfans in Lichtensteig über. Sie schlossen sich zur «Erlebniswelt Toggenburg» zusammen, die die Anlage übernahm und den Umbau der Räumlichkeiten in der Fabrikhalle der Firma Thuroplast finanzierte. Die rund 40 Mitglieder des Model Train Club Toggenburg haben die Halle in zahlreichen Frondienststunden in einen Ausstellungsraum verwandelt. Dort steht nun die Bahnmodellanlage vielfach erweitert und bescheiden geschmückt, mit Tribüne und Werkstatt. Der Model Train Club betreibt und unterhält sowohl die Eisenbahnanlage als auch das vielfältige Museum.
Ein Zeitzeuge aus den 1950er-Jahren
Bei der Anlage handelt es sich nicht um eine Modelleisenbahn im heutigen Sinn. Sie soll vielmehr als Zeitzeuge verstanden werden, der die technischen Möglichkeiten der 1950er-Jahre veranschaulicht. Es gibt viele Gründe, warum die Eisenbahn nicht zu einer Modellanlage umgebaut wird. Zum Beispiel sollen alle Züge in Fahrt sichtbar sein. So gibt es auch keinen Schattenbahnhof, also versteckte Abstellgleise, auf denen die im Moment nicht gebrauchten Züge geparkt werden. Alle 40 fahrbaren Züge sind sichtbar auf sechs Bahnhöfe verteilt. Ausserdem hat das Bahnmodell zu viele Gleise, um der Wirklichkeit zu entsprechen, und das dichte Schienennetz macht die Gestaltung einer vorbildgetreuen Modelllandschaft unmöglich.
Zudem soll die Anlage bei Zwischenfällen und Pannen betretbar sein. Das Panoramabild, das die Anlage im Hintergrund abschliesst, reicht vom Gäbris im Appenzellerland über den Säntis und die Churfirsten bis hin zum Speer. Es ersetzt die fehlende Landschaft. Im Vordergrund steht die Bahnanlage mit der historischen Technik, die der Nachwelt erhalten bleibt.
Die Holzbahn – eine attraktive Ergänzung
In der Erlebniswelt Toggenburg ist neben der Eisbahnanlage eine weltweit einmalige Holzbahn zu sehen. Sie wurde unter der Regie von Martin Rindlisbacher, Werkstattleiter im Jugendheim der Viktoria-Stiftung in Richigen BE, konzipiert und gebaut. Bis vor einigen Jahren gab es in dieser Institution noch eine Spielzeugproduktion, woraus sich nach und nach das Projekt Holzbahn entwickelte
Ein Trambahnmodell und eine amerikanische Dampflok der Baureihe «Mason Bogie» aus dem Jahr 1883 standen am Anfang des Bahnmodellprojekts. In der Werkstatt der Viktoria-Stiftung entstand nach und nach eine ganze Holzbahn im Massstab 1:11 mit einem rund 1 m hohen Unterbau, hölzernen Schienen und Weichen, einer Dampflokomotive und einigen Wagen. Mit viel Geduld und Geschick wurden während Jahren verschiedene Lokomotiven und Eisenbahnwagen gebaut.
Die Anlage wurde bereits mehrfach an Ausstellungen präsentiert. Der Antrieb ist elektrisch, die Antriebsteile der Lokomotive – Kolben-, Treib- und Kuppelstangen – bewegen sich wie beim Vorbild. Jede Lokomotive setzt sich aus mehreren Tausend Teilen zusammen, die alle funktionstüchtig sind.
Martin Rindlisbacher entschloss sich schliesslich, die hölzerne Bahnanlage der Erlebniswelt Toggenburg in Lichtensteig zu übergeben. Sie steht dort in entsprechender Umgebung, wird gepflegt und von jährlich rund 10000 Besucherinnen und Besuchern bestaunt.
Die Erlebniswelt Toggenburg in Lichtensteig bietet nicht nur etwas für Eisenbahnfans. Sie beherbergt zusätzlich eine grosse Oldtimer-Motorradsammlung und eine exklusive Sammlung von Puppen aus dem 18. und 19. Jahrhundert sowie wechselnde Sonderausstellungen.
Erlebniswelt Toggenburg
Thurstrasse 2, 9620 Lichtensteig
Öffnungszeiten
Mi, Sa, So 10.30–16.30 Uhr
Die Maschinenskulptur von Erich Schatt
Mitten in der Bahnanlage steht eine grosse Maschinenskulptur, die vollständig aus Holz hergestellt ist. Sie stammt vom Kunsthandwerker Erich Schatt aus Embrach. Ist es eine Skulptur oder eine Maschine? Wenn Erich Schatt seine Maschinenskulptur in Bewegung setzt, erinnert sie an die Werke des Künstlers Jean Tinguely, den Schatt sehr bewundert.
Zahnräder, Ketten, Getriebe und Kreuzgelenke kreisen und rattern. Mit Ausnahme des Motors bestehen sämtliche Teile aus Holz und wurden in jahrelanger Arbeit eigenhändig angefertigt. Seine Maschine zeichnet Schatt als hervorragenden Kunsthandwerker aus, der auch die Gesetze der Mechanik beherrscht.